Neue Simulationsresultate über die Corona-Epidemie liegen vor.

Illustr.: TU Wien / dwh

Wien – Am Donnerstag um 15 Uhr waren insgesamt 6398 Personen in Österreich positiv auf eine Covid-19-Infektion getestet worden. Diese Zahl hat zwar in den 24 Stunden davor um 838 zugenommen, doch das bedeutet mit rund 15 Prozent Zuwachs einen abermals geringen prozentuellen Anstieg.

Die Kurve scheint sich angesichts der rigiden Maßnahmen zur Verringerung der sozialen Kontakte also abzuflachen. Genau das hatten gleich mehrere österreichische Forscher vorhergesagt, so unter anderem die Teams von Stefan Thurner (Complexity Science Hub Vienna) und Niki Popper (TU Wien) sowie der Direktor des Wolfgang Pauli Instituts, Norbert J. Mauser.

Bleiben die großen Fragen, wie sich diese Zahlen in den nächsten Tagen und Wochen weiterentwickeln werden und ab wann an eine mögliche Lockerung der Maßnahmen zu denken ist. Bei den Entwicklungen der Fallzahlen kommt Mauser in seinen Modellrechnungen zum Schluss, dass wir die meisten bestätigten neuen Fälle pro Tag in den nächsten Tagen haben werden.

Gipfel am Osterwochenende

Danach sollte diese Zahl aber sinken. In diesem Szenario würde eine maximale Anzahl von insgesamt rund 17.000 aktiven Covid-19-Fällen (also abzüglich der gesundeten) kurz vor dem Osterwochenende erreicht werden. Die Maßnahmen müssten danach freilich – zumindest im aktuellen Ausmaß – beibehalten werden, und zwar für mindestens 35 Tage, fordert Mauser.

Vor einem übereilten Ende der Maßnahmen warnen auch alle anderen österreichischen Forscherteams, so auch Niki Popper und seine Kollegen von der TU Wien: Eine durch ein Zurückfahren der Maßnahmen verursachte zweite Corona-Welle könnte den Simulationen zufolge innerhalb kurzer Zeit zu deutlich höheren Krankheitszahlen führen als derzeit. Daher seien gewisse Vorsichtsmaßnahmen noch längere Zeit aufrechtzuerhalten.

Sind noch drastischere Kontakt-Einschränkungen sinnvoll?

Aber auch die Verordnung von noch drastischeren Maßnahmen sei nicht unbedingt sinnvoll, wie die Simulation der Wissenschafter von der TU Wien und des TU-Spin-Offs dwh nahelegen: Eine noch drastischere Einschränkung der Kontakte hätte demnach kaum zusätzlichen Nutzen.

Auch wenn die derzeitigen Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Epidemie schon sehr einschneidend sind – theoretisch könnte man noch weit darüber hinausgehen. Man könnte öffentliche Verkehrsmittel gänzlich stilllegen, noch mehr Betriebe schließen oder sogar ein generelles Ausgangsverbot verhängen.

Grafik 1: Einfluss der Kontaktreduktion auf die Epidemiekurve.
Grafik: TU Wien / dwh

"Unsere Simulationsrechnungen zeigen ganz klar, dass ab einem gewissen Punkt eine weitere Verschärfung keinen spürbaren Nutzen mehr bringt", sagt Nikolas Popper, Leiter des Forschungsteams. "Man kann sich das vorstellen wie bei einem nassen Schwamm: Je mehr Druck man ausübt, umso mehr Wasser kann man herausdrücken. Aber irgendwann ist der Schwamm völlig komprimiert, und dann hat zusätzlicher Druck kaum noch eine Auswirkung." Punktuell eingeführte, gut durchdachte Maßnahmen – etwa die Zahl der Kontakte bei Risikogruppen einzuschränken – könnten dagegen natürlich sinnvoll sein, ergänzt der Wissenschafter.

Zweite Welle mit mehr Erkrankungen

Das Forschungsteam analysiert daher nun, auf welche Weise die Maßnahmen wieder gelockert werden könnten. "Eines ist klar: Sofort wieder zum gewohnten Alltag zurückzukehren, wäre jetzt falsch", betont Popper. "Wir gehen davon aus, dass bei Beibehaltung der aktuellen Maßnahmen der Höhepunkt der Krankheitsfälle bald erreicht werden würde und danach die Fallzahlen zurückgehen. Wenn die Kontaktzahl aber dann sofort wieder auf das früher übliche Niveau ansteigt, dann wird auch die Zahl der Krankheitsfälle sehr rasch wieder zunehmen, so ähnlich wie sich ein zusammengedrückter Schwamm sofort wieder ausdehnt, wenn man den Druck wegnimmt."

Eine solche zweite Corona-Welle, verursacht durch ein übereiltes Ende der Maßnahmen, könnte innerhalb kurzer Zeit zu deutlich höheren Krankheitszahlen führen als wir sie aktuell beobachten. Gewisse Vorsichtsmaßnahmen werden wir also noch längere Zeit ergreifen müssen.

Grafik 2: Auswirkungen der kontrollierten Rücknahme der Maßnahmen: Vergleich der aktuellen Maßnahmen (schwarze Linie) mit Öffnung der Arbeitsstätten nach Ostern, Öffnung von Arbeitsstätten nach Ostern und Schulen am 4.5.
Grafik: TU Wien / dwh

Mögliche Szenarien:

+ 1.) Alles wie bisher

Das Forschungsteam analysiert daher im Moment unterschiedliche Szenarien: Derzeit sind Schulen und ca. 25 Prozent der Arbeitsstätten geschlossen, bei den Freizeitkontakten wird im Modell eine Reduktion von 50 Prozent angenommen. Würde man dieses Maßnahmenpaket voll beibehalten, würde die Zahl der Covid-19-Kranken über den Sommer kontinuierlich zurückgehen.

+ 2.) Nur Arbeitsstätten öffnen

Ein kontinuierlicher Rückgang der Krankheitszahlen ergibt sich allerdings auch in einem zweiten Szenario, bei dem nach Ostern die Arbeitsstätten wieder geöffnet werden. Schulen bleiben in diesem Szenario geschlossen, die Freizeitkontakte bleiben weiter reduziert. Der Rückgang der Krankheitszahlen wäre dann langsamer, aber das Gesundheitssystem käme nicht an seine Belastungsgrenze.

+ 3.) Arbeitsstätten und Schulen öffnen

In einem dritten Szenario wird davon ausgegangen, dass Arbeitsstätten ab Ostern wieder geöffnet werden und am 4. Mai (zwei Wochen vor der Matura) auch die Schulen wieder ihren normalen Betrieb aufnehmen. Nur die Kontaktanzahl in der Freizeit bleibt weiterhin um 50 Prozent reduziert. In diesem Fall kommt es nach den Berechnungen zwar nicht zu einem explosiven Anstieg der Krankheitszahlen, wie das bei einem abrupten totalen Ende der Maßnahmen der Fall wäre, aber die Krankheitszahlen würden trotzdem steigen und das Niveau der derzeitigen ersten Welle übertreffen.

"Freilich sind langfristige Prognosen immer mit einer gewissen Unsicherheit behaftet", betont Popper. "Es ist wichtig, die Modelle Woche für Woche weiter zu verbessern und an das neueste Datenmaterial anzupassen. Je mehr wir über die Ausbreitung von Covid-19 lernen, umso zuverlässiger wird auch unser Blick in die Zukunft sein."

Mathematiker widerspricht

Der Wiener Mathematiker Norbert J. Mauser (START-Preisträger 1999), der am Mittwoch ein eigenes Modell zur Lage der Corona-Maßnahmen in Österreich veröffentlicht hat, hält von den Schlussfolgerungen aus den Simulationen der TU-Wien-Forscher allerdings wenig. "Ich halte so eine Aussendung für unverantwortlich und wissenschaftlich nicht belegbar", so Mauser.

Seiner Ansicht nach könnten die Maßnahmen sehr wohl sinnvoll nachgeschärft werden, ohne dass die Bevölkerung oder die Wirtschaft zusätzliche Opfer auf sich nehmen müssten. So wäre etwa eine Maskenpflicht seiner Ansicht nach durchaus sinnvoll. Außerdem sollten einige Regeln im Alltag eindeutiger kommuniziert werden. (red, 26.3.2020)