Vor 125 Jahren wurde Charly Gaudriot (1895–1978) geboren – ein Künstler, dessen Name über 40 Jahre Synonym für beste Wiener Unterhaltungsmusik war. Seine Laufbahn begann aber ganz klassisch: Als Hochbegabter studierte Gaudriot an der Akademie für Musik und darstellende Kunst in Wien bei Franz Bartolomey Klarinette und legte 1914 die Reifeprüfung mit Auszeichnung ab. An das Orchester des Wiener Concertvereins engagiert, trat er noch im Spätherbst des Jahres solistisch auf, ehe der Erste Weltkrieg seine beginnende Karriere unterbrach und Gaudriot einrücken musste. Doch bereits 1918 entdeckte Franz Schalk sein großes Talent und holte ihn als ersten Klarinettisten in das Orchester der Wiener Staatsoper. Schon mit 25 Jahren war er Widmungsträger der "Vier Stücke für Klarinette und Klavier" von Alban Berg, die er in Arnold Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen spielte.

Charly Gaudriot im Studio der Ravag.
Foto: Michael Winkler

Eigentlich waren es die Philharmoniker, die ihn zum Jazz brachten ...

1922 nahm Gaudriot an der ersten Südamerika-Tournee der Wiener Philharmoniker unter Felix Weingartner teil, im Jahr darauf an einer weiteren mit Richard Strauss als Dirigent. In Übersee lernte er den Jazz kennen, der ihn fortan nicht mehr loslassen sollte. Zurück in Wien bestellte er sich ein Saxofon, erlernte das Spiel autodidaktisch und gründete 1924 eine Jazzkapelle. Als Saxofonist trat er erstmals Anfang 1925 in der Jazzband von Berndt Buchbinder auf. In der Folge engagierte Hubert Marischka ihn mit dieser Band für die Operette "Der Orlow" von Bruno Granichstaedten ans Theater an der Wien. Das Stück wurde ein Sensationserfolg und über dreihundert Mal aufgeführt. Bei Buchbinder machte Gaudriot die Bekanntschaft des Komponisten und Pianisten Ralph Erwin, mit dem er eine "Monster-Jazz" gründete, die große Tanzkapelle "Erwin-Gaudriot", die ab 1926 im Moulin Rouge für Begeisterung sorgte und nach Erwins Fortgang 1927 "Jazz Charly Gaudriot" hieß.

Auf der Überfahrt nach Amerika, 1923.
Foto: Michael Winkler

Radioliebling mit Anfangsschwierigkeiten

Auch der Rundfunk wurde auf die Kapelle aufmerksam und verpflichtete sie zunächst für Sonntagnachmittage: Die moderne Musik direkt nach dem Operettenkonzert rief großen Protest in der Hörerschaft hervor – doch als die Jazz-Nachmittage daraufhin abgesetzt wurden, sorgte das ebenso für Empörung. Schließlich verlegte man den Termin auf die Abendstunden, in denen Gaudriot sein Zielpublikum erreichte und in kürzester Zeit zum "Radioliebling" avancierte, der mitunter sogar zweimal wöchentlich auf Sendung ging. Von der Presse zum "Jazzkönig" von Wien ernannt, bemühte sich Gaudriot dabei immer um einen Brückenschlag zur ernsten Muse: So brachte er im Rundfunk auch "Symphonische Jazzmusik" mit Werken Rachmaninows oder Rimski-Korsakows.

Abschied von der Oper

Marischka engagierte ihn 1927 für die Oscar-Straus-Operette "Die Königin" neuerlich am Theater an der Wien sowie mit seiner Jazzkapelle für die Revue "Alles aus Liebe" am Stadttheater. Für die Oper blieb Gaudriot dabei kaum mehr Zeit: Ende des Jahres gab es mehrere Pressenotizen, wonach ihm und weiteren vier Philharmonikern von der Staatsoperndirektion verboten worden sei, Jazz zu spielen, "um nicht die Würde des Hauses zu beschädigen" – was nicht einer gewissen Komik entbehrte, da gleichzeitig Kreneks Jazz-Oper "Jonny spielt auf" geprobt wurde. Tatsächlich suchte Gaudriot nach einer halbjährigen Beurlaubung erfolglos um neuerliche Karenzierung an. Als er seinen Dienst nicht wie gefordert antrat, wurde der Vertrag aufgelöst. Marischka hatte das Tauziehen um Gaudriot gewonnen – er war von dessen Spiel so fasziniert, dass er bei ihm Stunden nahm und 1928 bereits selbst ein paar Töne am Saxofon in Kálmáns "Die Herzogin von Chicago" spielte – natürlich mit Gaudriot im Orchestergraben. Die größten Hits der Bühnenerfolge verewigte Gaudriot auch mit seinem Wiener Jazzorchester bei Odeon auf Schallplatte, wo er bereits im Herbst 1927 seine ersten Aufnahmen einspielte. Weit über hundert sollten folgen.

Autogrammfoto.
Foto: Michael Winkler

Der nächste Coup gelang 1929 mit Leo Falls "Rosen aus Florida" in der Bearbeitung von Erich Wolfgang Korngold, der selbst dirigierte, den Klavierpart übernahm und mit Gaudriot am Saxofon vielbejubelte Duette spielte. Daneben trat Gaudriot ab 1929 täglich in Hans Hübners Kursalon Stadtpark zum Fünf-Uhr-Tanztee auf, später auch in dessen Parkhotel Schönbrunn, und gab erste Kompositionen wie "Das lachende Saxophon" und "10 Etüden für Saxophon" heraus, beide gemeinsam mit Duettpartner Hans Schneider. "Königin der Nacht" (1929) wurde sein erster Schlager. Als Garant für "gehobene" Unterhaltungsmusik war Gaudriot zudem unverzichtbar bei den großen Wiener Bällen geworden und begleitete mit seiner Band Feiern, Modeschauen und Schönheitskonkurrenzen.

Der Ton zum Film

Ein weiteres Betätigungsfeld eröffnete sich ihm 1930, als er mit seinem Orchester im ersten in Österreich produzierten Tonfilm, "Stürmisch die Nacht", mitwirkte – es folgten "Hochzeitsreise zu dritt" (1932), "Csibi, der Fratz" (1934), "Episode" (1935) und "Der Mann, von dem man spricht" (1936). 1931 spielte er mehrere Wochen die von Charly Chaplin komponierte Musik zum Stummfilm "Lichter der Großstadt" im Sascha-Filmpalast.

Drehpause zum Film "Stürmisch die Nacht".
Foto: Michael Winkler

Tonfilm und Wirtschaftskrise hatten viele Kinomusiker arbeitslos gemacht. Deshalb wurde 1931 der Jazzband-Wettbewerb um das "Goldene Band" gegründet, dessen Erlös arbeitslosen Musikern zugutekam. Gaudriot siegte die ersten drei Jahre und gewann ihn somit "endgültig": Er erhielt die goldene Medaille und durfte fortan nur mehr außer Konkurrenz teilnehmen.

1932 gastierte Gaudriot für einige Wochen in Abbazia, es folgten Tourneen durch Österreich, Deutschland, die Niederlande, die Schweiz, Italien, die Tschechoslowakei und Ungarn bis nach Syrien. Dem allen bereitete der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ein jähes Ende – von Oktober 1939 bis April 1945 war Gaudriot bei der Luftwaffe eingerückt und geriet anschließend für kurze Zeit in amerikanische Gefangenschaft.

Charly-Gaudriot-Orchester.
Foto: Michael Winkler

Neubeginn

Schon Anfang 1946 trat er aber wieder als Klarinettist auf und spielte in einem Konzert mit den Wiener Symphonikern das Saxofonsolo in Ravels "Bolero". Er gestaltete "Vergnügungskonzerte" wie "2 Stunden bei Charly Gaudriot" und wirkte in der Konzerthausreihe "Das Bouquet" mit. Im selben Jahr kam es unter ihm zur Neugründung des "Kleinen Wiener Rundfunkorchesters", nachdem er bereits vor dem Krieg das Funkorchester der Wiener Symphoniker geleitet hatte. Er blieb bis 1962 dessen Dirigent und künstlerischer Leiter, gestaltete tägliche Programme wie "Wir laden ein" oder das "Konzertcafé". In diesen Jahren entstanden auch tausende Aufnahmen. 1955 gelangte er ins Finale des "1º Festival Internazionale della Canzone" (ein Vorläufer des Song Contest) in Venedig und trat mit dem Kleinen Wiener Rundfunkorchester auf dem Markusplatz vor 7.000 Zuschauern auf.

Seinen größten Hit "Wenn einmal in fernen Tagen" schrieb er 1947 mit Hans Zeisner, sehr beliebt wurden unter anderem aber auch "Musikant", "Flott und munter" und "Sperrstund' is'". Der gefragte Pädagoge unterrichtete zudem Klarinette und Saxofon am Konservatorium für Musik und darstellende Kunst ("Prayner-Konservatorium"), wo Carl Drewo zu seinen erfolgreichsten Schülern zählte. Noch im Ruhestand als Dirigent tätig, sorgte der einstige Philharmoniker und Jazzpionier über 40 Jahre lang für den richtigen Rhythmus auf dem Wiener Tanzparkett. (Ruth Müller, 28.3.2020)