Laut einem Gesetzesentwurf der Justizministerin soll Ungarn auf unbestimmte Zeit per Dekret regiert werden. Im Gastkommentar warnt der freie Journalist Balazs Csekö, dass Viktor Orbán die Covid-19-Krise nützt, um seine Macht auszubauen.

Das Wort Krise setzt sich im Chinesischen aus zwei Schriftzeichen zusammen – das eine bedeutet Gefahr und das andere Gelegenheit", sagte der US-Präsident John F. Kennedy einmal. Sein Zitat könnte in der Corona-Krise nicht aktueller sein. In dieser prekären Lage versuchen die meisten Regierungen, sich auf die Pandemie zu konzentrieren, in Ungarn hingegen wollen einige den Moment für den eigenen Machtausbau nutzen. Ungarns Exekutive könnte ab nächster Woche ohne Einschränkung regieren.

Ein Arbeiter desinfiziert einen U-Bahn-Zugang in Budapest. Der Premier indes werkt am Machtausbau.
Foto: EPA / Marton Monus

Krisen ausnützen

Der Gesetzesentwurf, der von Justizministerin Judit Varga erarbeitet wurde, soll die Verlängerung des Corona-Notstands ohne Zeitgrenze ermöglichen. Dieser ist demokratiepolitisch höchst problematisch und gibt dem Regierungschef Befugnisse wie in einer Kriegszeit: das Regieren per Verordnung, die Aushebelung des Parlaments, die Aufschiebung aller Wahlen und Referenden, eine Haftstrafe von bis zu fünf Jahren für die Verbreitung von "Falschnachrichten", acht Jahre Freiheitsentzug für das Verlassen der Quarantäne. Der Rechtsstaat hört auf zu existieren, eine Gewaltenteilung gibt es de facto nicht mehr. Per Gesetz wird das Verfassungsgericht zwar nicht ausgeschaltet, jedoch ist die Institution längst von Vertrauten Viktor Orbáns besetzt. Über das Ausmaß der Strafen entscheidet der Oberste Staatsanwalt, ein langjähriger Orbán-Freund. Über die Länge des Notstands? Der Regierungschef. Kurzgefasst: Ungarn schlittert in die Diktatur. Per definitionem.

Orbáns Kokettieren mit unbeschränkter Macht ist nichts Neues. Seit der Machtübernahme 2010 arbeitet Ungarns Premier ständig auf den Moment hin, wo er, über dem Gesetz stehend, ohne den geringsten Widerstand Entscheidungen treffen kann. Kaum eine Krise hat der Regierungschef vergeudet, damit sein Traum in Erfüllung geht. Egal ob die Migrationskrise, die Demokratiekrise oder nun die Corona-Krise. Systematisch bastelt er seit einem Jahrzehnt an dem Regime, das er mit Stolz als "illiberale Demokratie" bezeichnet. Unter dem Deckmantel der Covid-19-Krise geht er jetzt einen Schritt weiter und lässt alle gesetzlichen Rahmen aus dem Weg räumen.

Orbáns Show

Einen Vorgeschmack, was auf Ungarn zukommen wird, lieferte der Premier bei seinem Parlamentsauftritt diese Woche. "Wir werden die Krise auch ohne sie meistern", sagte er den Oppositionsabgeordneten. Das Parlament hätte nämlich das Gesetz bereits am Montag per Eilverfahren nach einer Veränderung der Hausordnung mit Vierfünftelmehrheit verabschieden können. Die nötige Stimmenmenge wurde zwar verfehlt, dennoch ist Orbáns Schachzug – bei der Abstimmung zu scheitern – gelungen. Denn diese hatte er nicht nötig, sie war Teil der Show. Am kommenden Dienstag wird das Gesetz mit der Orbán’schen Zweidrittelmehrheit ohnehin verabschiedet. Das Scheitern diente nur dazu, die Propagandamaschinerie der Regierung zu aktivieren und mithilfe dieser die Opposition "an die Seite des Virus" zu stellen.

Protest gegen den Gesetzesvorschlag kommt von der Zivilgesellschaft. Nachdem in der Corona-Zeit keine Massendemonstrationen erlaubt sind, mobilisieren Gegner im Internet. Innerhalb von zwei Tagen unterschrieben mehr als 80.000 Personen eine Online-Petition unter dem Motto "Wir protestieren gegen die Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes!". Orbán wird wohl die Forderungen der Protestierenden zur Kenntnis nehmen, sein Vorhaben bremsen sie damit allerdings nicht aus.

Unter Aufsicht

Die Pandemie hat die Orbán-Regierung an ihrer Achillesferse getroffen. Das ausgehungerte Gesundheitssystem ist seit Jahren in einem katastrophalen Zustand. Bei einer Zunahme an Covid-19-Erkrankten könnte das Gesundheitswesen in den nächsten Tagen kollabieren. Dieser Tatsache ist sich Orbán bewusst, nicht umsonst hat er das Militär bereits auf Ungarns Straßen geschickt und 140 staatliche und private "Schlüsselunternehmen" unter militärische Aufsicht gestellt. Dazu zählen das Kernkraftwerk Paks, der Öl- und Gaskonzern Mol, außerdem Banken, die Börse sowie Strom-, Wasser- und Gasversorgungseinrichtungen, Robert Bosch, Auchan, die Handelsketten Tesco, Spar und die Deutsche-Telekom-Tochter Magyar Telekom.

Die Unzufriedenheit mit dem Premier wird in der kommenden Zeit wachsen, der Unmut in der Bevölkerung wegen versäumter Maßnahmen im Gesundheitsbereich seitens der Regierung an die Oberfläche treten. Ungarn steht vor einer doppelten Krise, die wir kaum als Gelegenheit bewerten können. (Balazs Csekö, 27.3.2020)