S1E1 bis S1E3: Marlene Streeruwitz schreibt eine Corona-Serie.

Foto: Heribert Corn www.corn.at

S1E1, 20. März 2020:

Tagebuch. Tagebuch führen. Was hätte Barbara (Betty) A. in ein Tagebuch eintragen können? Wie die Kleinteiligkeit der durchwarteten Zeit schildern? Wie schildern, dass jeder Augenblick alles Warten war und sie dann aber mit einem Mal keine Ahnung hatte, wie die Zeit vergangen war? Und keine Erinnerung daran? Bewusstlosigkeit? War das nicht Bewusstlosigkeit? Und die Ungewissheiten? Hast du das Virus?

Musste sie sich das nun in aller Zukunft fragen? Trägst du schon diese orange eingefärbte Stachelkugel von Virus mit dir herum? Und deine weißen Blutkörperchen, von denen du letzthin beim großen Blutbild zu wenige hattest? Schnappen deine zu wenigen weißen Blutkörperchen schon nach den Stachelkugeln? Und grinsen die orangen Stachelkugeln nur zurück und machen sich gerade daran, deine Lungen in vollgesoffene Badeschwämme zu verwandeln? Und kein Platz mehr für Atem?

Betty war wütend. War sie das Leben allein nicht gewohnt gewesen? Hatte sie sich nicht für das Leben allein entschieden? Und jetzt? Lebten jetzt plötzlich alle so? Mussten nun alle, in die Quarantäne gestopft, philosophisch leben? Alle gleich?

Sie war wütend. Sollte Gleichheit nicht ein Beschluss sein? Ein Beschluss nach langem Überlegen und Bedenken? Was bedeutete Gleichheit als Folge der Gleichmacherei einer Ansteckung? Musste sie wirklich vernünftig sein? Und musste gehofft werden? Dass etwas Gutes herauskommen konnte? Aber wie sollte sie etwas Gutes erwarten, wenn es bisher nicht gelungen war?

Noch beim Einschlafen. Vor dem Einschlafen. Ihr Bundeskanzler fiel ihr ein. Bei der Pressekonferenz. Hatte der nicht wie Waldheim geredet? In diesem österreichischen Diplomatendeutsch? Und hatte der sich nicht wie Waldheim bewegt? Und wie konnte dieser Mann so fürsorglich wegen der Risikogruppe an alle appellieren und zur gleichen Zeit den Flüchtenden die Frontex an den Hals schicken? War es dieser Widerspruch gewesen, der den Waldheim im Kurz zum Vorschein gebracht hatte?

Beim Einschlafen. Wie sollte dieser Widerspruch wieder ausgehalten werden? Und warum hatte sie es einmal mehr nicht geschafft, den Küchenboden aufzuwaschen? Was sollten diese dummen Widerstände? Und wo war diese eine dunkle Socke wieder hinverschwunden? Wo war nun wieder dieses Sockenland, in dem sich alle verschwundenen Socken versammelten?

S1E2, 21. März 2020:

Gleich nach dem Aufwachen. Noch während des Aufwachens. Statt der täglichen Dehnungsübungen. Sie erfand sich eine Person. Sie hatte dagelegen. Den Tag vor sich. Und sie hatte gewusst, dass sie jemanden brauchte. Sie brauchte den Rat und das Vorbild einer klugen und gesetzten Person. Fiorentina Evelyn. Die sollte das sein. Klug und gesetzt.

Fiorentina sollte nicht wie sie diesen ewig gedehnten Augenblicken so ausgesetzt sein, wie sie das war. Fiorentina würde ihr raten, sich nicht darüber zu wundern, warum es auf einmal so elendslang dauerte, den Geschirrspüler auszuräumen. Fiorentina Evelyn würde ihr vorschlagen, den Küchenboden gleich nach dem Frühstück in Angriff zu nehmen. Noch vor dem Duschen.

Sie würde sich richtig gut fühlen dann, und Fiorentina sollte sie davon abhalten, zu viel zu essen. Fiorentina war überschlank und perfekt frisiert. Eine zeitlose elegante Person. Eine Person, der die Socken nicht in der Wäsche verschwanden.

"Diese Rolle übernehme ich gern", sagte Fiorentina und lächelte freundlich. "Aber fangen wir gleich an", setzte sie hinzu. "Die Haare musst du dir waschen, auch wenn dich niemand sieht. Und nein. Kein Trockenshampoo." Fiorentina schüttelte den Kopf. "Den Küchenboden machst du nur nicht, weil du dich nicht mit der Situation abfinden willst. Aber so ein Widerstand kostet nur deine Kraft. Bring das hinter dich, und freu dich über die Ordnung."

Fiorentina setzte sich auf den Badewannenrand und verschränkte die Arme. "Du glaubst ja nur, dass du dich über die Situation schrecklich aufregen musst, damit du moralisch besser dastehst. Du hast nur diese riesige Angst, daß du als angepasst angesehen werden könntest. Aber was hast du für die Flüchtenden denn bisher getan. Gespendet. Ja. Du kannst sagen, dein Staat soll das erledigen. Aber da bist du hilflos. Du hättest hinfahren müssen und jemanden herausholen. Das hast du nicht gemacht. Ich muss zugeben, das wäre schwierig gewesen. Ja. Das wäre kriminell. Aber gemacht hast du es nicht. Deswegen ist es besser, du kümmerst dich um deinen Küchenboden. Einmal. Und ja. Es ist normal, dass du dich überflüssig fühlst. Dass du dir überflüssig vorkommst. Das bist du ja auch. Risikogruppe. Das ist eine Markierung, und du bist nicht gefragt worden. Und ja. Es ist ein Putsch. Eigentlich. Eigentlich ist es ein Putsch mehr in diesem Staat. Aber jetzt kannst du nichts tun."

Fiorentina stand auf und lächelte maliziös. Betty starrte in den Spiegel. "Ich werde nur noch in kleinen Geschäften einkaufen", rief sie Fiorentinas Spiegelbild zu. "Ich werde den höheren Preis bezahlen, damit die weitermachen können." Fiorentina lachte höhnisch und drückte ihr die Pinzette für das eine dunkle Haar am Kinn in die Hand. "Solidarität?", kicherte sie. "Zusammenhalt?"

Fiorentina ging ins Schlafzimmer und kam mit Bettys Brille zurück. "Die brauchst du aber schon", sagte sie und lächelte böse. "Du wirst ja doch wieder bei H&M landen und gerne das Blut übersehen, das aus diesen Einkaufstaschen tropft. Auch wenn die nicht mehr aus Plastik sind."

"Ich habe noch nie bei H&M eingekauft", rief Betty empört. Sie war eine Demonstrationsgeherin. Sie kaufte bewusst ein. Sie war so nachhaltig wie möglich. Fiorentina zuckte mit den Achseln. "Du bist auch nicht anders als die anderen. Das wirst du jetzt begreifen müssen. Und wie willst du das mit dem Küchenboden machen?" "Es ist wie 9/11", stellte Betty fest. "Nur umfassender." "Der Küchenboden wird davon nicht aufgewaschen", erwiderte Fiorentina spitz.

S1E3, 22. März 2020:

Betty wachte früh auf. Es war eiskalt. Am Sonntag begann die Heizung erst um 8.00 Uhr mit dem Heizen. Sie machte gleich ihre Dehnungsübungen. Aber Fiorentina war trotzdem da. Sie saß auf dem weißen Sessel und hatte die Zierpölster auf dem Schoß, die normalerweise da für die Nacht hingelegt lagen.

Fiorentina lächelte. "Wird es uns heute gelingen, deine Ängste zu überwinden? Normal werden. Das ist ein anstrengender Vorgang, aber notwendig." "Du meinst den Küchenboden", stellte Betty fest. Fiorentina trug ein Pepitakostüm und dunkle Pumps, und ihre Frisur war makellos. Betty rutschte unter die Decke. "Ich will keine unsichtbare Freundin mehr", rief sie unter der Decke heraus.

Fiorentina lächelte und schüttelte den Kopf. "Ach", seufzte sie. "Alle diese Ausflüchte. Du musst alles hinter dir lassen. Alles. Du wirst es sonst nicht aushalten."

Fiorentina stand auf und legte die Pölster hinter sich auf den Sessel. Sie lehnte sich gegen den Kleiderkasten. "Es wird alles verändert sein. Danach. Und du. Ihr alle. Ihr werdet euch sehr anstrengen müssen, den Putsch zurückzubauen. Das wird noch anstrengender. Es wäre besser, du findest dich damit ab. Ich weiß doch, dass du glaubst, wenn du die Rubbellose, die du noch auf der Post gekauft hast, nicht rubbelst, dann bleibt die Welt unverändert. Solange diese Lose nicht aufgerubbelt sind, bleibt alles gleich. Aber das ist magisches Denken, und du weißt, was das heißt."

Betty hatte sich im Bett wieder aufgesetzt gehabt. Sie hasste Fiorentina. Wie konnte eine Person so früh am Morgen so perfekt frisiert sein. Und diese Pumps. Solche Pumps hatte ihre Mutter getragen, weil ihr Vater das so verlangt hatte. Aber. Betty verschwand wieder unter der Decke. War Fiorentina ein Trugbild ihrer Mutter? Dann wollte sie sie nicht in ihrem Schlafzimmer haben. Aber bevor sie Fiorentina wegschickte, wollte sie sie noch fragen, ob sie das Geheimnis der verschwundenen Socken lüften konnte.

Betty blieb unter der Decke versteckt und schlief wieder ein. Sie schlief dann bis spät in den Vormittag hinein. Es war schließlich Sonntag. Betty beschloss dann, die Wochentage genau einzuhalten. Deshalb konnte sie den Küchenboden nicht aufwaschen. Das war Wochentagsarbeit. (Marlene Streeruwitz, 27.3.2020)