"Hast den Schweinen dein Leid geklagt, weil dir sonst keiner zugehört hat, die Schweine, deine eigentlichen Brüder und Schwestern, deine Mutter, dein Vater, dein heiliger Geist. Noch heute unterhältst du dich lieber mit Tieren als mit Menschen, weil dir ihre Sprache ehrlicher, ihre Reaktionen absehbarer vorkommen."

Foto: Imago / photothek.net / Thomas Trutschel

Mütter, Väter, ihr seid schuld, an vielem, an allem, hättet besser überlegen sollen ob und bei wem ihr die Beine spreizt, ob und in wen ihr euren Samen ergießt, warum ihr euch fortpflanzen, unbedingt etwas (und was überhaupt?) von euch weitergeben, hinterlassen wollt, in dieser Welt, Herzensbildung kommt vor Körperakrobatik.

Bauern, ihr seid schuld, an vielem, an allem, hättet besser eure fields of emotions als die Ackerböden fruchtbar machen, von den vielen Steinen und Wurzeln der Vergangenheit befreien sollen, Herzensbildung kommt vor dem Hektar.

Säue, Eber und Wutz, ihr seid meine wahren Freunde, meine Familie und der Stall, aus dem ich komme. Was hätte ich ohne euch getan, wie überlebt, was hätte ich für eine Wahl gehabt, als (ein) Tier, als eine von euch, zu werden.

Der Bauernroman beginnt in New York. Dies ist die Geschichte einer Familie von Schweinebauern, die sich abgrundtief hasste. Es ist die Geschichte einer Familie von Mördern, Betrügern, Vergewaltigern, Brandstiftern und Verrätern, einer Familie von Steinen, die mit ihrer Roh- und Boshaftigkeit, ihrer Gier, Ignoranz, ihrem Machtstreben und ewigem Schweigen einander und die Welt zermalmte. (Man war so unterschiedlich gleich.)

Die Vergangenheit hinter sich lassen

Und schließlich ist es vor allem die Geschichte des Sauschneiderbauer-Seppl, dem es als Einzigem gelingen sollte, diese, seine, Vergangenheit des Saublutvergießens hinter sich zu lassen. Eigentlich hätte ein kleines Dorf im Salzkammergut zum Schauplatz der Geschichte werden sollen.

Dort und nicht hier hätten sich die Ereignisse naturgemäß zusammenspinnen, Personen zusammenseilen, Erinnerungslücken zusammenreimen sollen, alleine schon, weil sich die Protagonisten noch nie zuvor in ihren Leben von ihren schweinemistgedüngten Äckern wegbewegt hatten, aus ihren scheuklappenbeschränkten Dunstkreisen herausgekommen waren, weil wie ein Schuster bei seinem Leisten, ein Bauer bei seinem Vieh und überhaupt alles so zu bleiben hatte, wie es immer schon gewesen war. Und doch verschlägt es uns (einigermaßen überraschend) gleich zu Beginn nach New York City.

Und also in eine Stadt, die alle Menschen willkommen heißt, Gewinner und Verlierer, Einsame und Mehrsame, Verlorene und Hoffnungsfrohe, Macher und Träumer. Der Sauschneiderbauer-Seppl war einer dieser Neuankömmlinge. Wie er hier gelandet war, wie er in dieser Stadt zu Joe Wander wurde, ist eine lange Geschichte. Ihren Anfang hören wir hier:

Wer bist du, Joe Wander, heißt du überhaupt so? Komm zu uns in deiner Einsamkeit, zeig dich, mit deinen Geheimnissen aus der Vergangenheit, deinen Gedanken, deinem Wesen, das du so lange vor allen versteckt hast, dass du jetzt selbst nicht mehr weißt, wer du bist. Schon früh hat für dich der Ernst des Lebens begonnen, Ernst auf Ernst / wos mocht da Ernst / a finsters Gsicht / wer lacht, der kriagt a Watschn ins Gsicht, schon mit fünf wurdest du zu Onkel Franz zum Arbeiten in die Sauställe geschickt. Den Geruch von Saumist hast du in jeder Pore deiner kleinen Haut, deiner unschuldigen Seele mit dir herumgetragen, nur oberflächlich ließ sich der Geruch deiner Haare, deiner Nägel, deiner Kleidung durch den Weißen Riesen entfernen, reinwaschen wie die Sünden, die der Pfarrer vergab, oder wenn es nicht der Pfarrer war, dann die Sauschneiderbauer-Oma.

Das tägliche Stallausmisten, das FutterSchaufeln, das Exkremente-Entfernen, wie schwer das war, wie körperlich herausfordernd, die Mistgabel, die Schaufel, größer als du. Hast den Schweinen dein Leid geklagt, weil dir sonst keiner zugehört hat, die Schweine, deine eigentlichen Brüder und Schwestern, deine Mutter, dein Vater, dein heiliger Geist. Noch heute unterhältst du dich lieber mit Tieren als mit Menschen, weil dir ihre Sprache ehrlicher, ihre Reaktionen absehbarer vorkommen. Wenn du nicht nach Sau gestunken hast, dann nach Kuh. Denn nach getaner Arbeit am Sauschneiderbauernhof hieß es für dich zurück ins elterliche Gehöft, zu den Kühen und Kälbern, den Hühnern, den Feldern.

Und doch hast du alles überlebt

Wie gut war dir das Jahr eines Bauern vertraut. Im Frühling: das große Erwachen. Wenn die Kühe auf die Weide kamen, die Kälber das Licht der Welt erblickten, das Leben aufbrach. Du erinnerst dich an die stundenlangen Traktorfahrten auf dem Acker, bei denen du Gott verflucht, Frau Holle angefleht und automatisch sämtliche Bauernregeln heruntergerattert hast, die du der mütterlichen Gehirnwäsche verdanktest, ihrem Flüstern und Summen beim Windelwechseln und Säugen, die du auswendig wusstest noch bevor du in der Schule die Zehn Gebote, die Landeshymne und Schillers Lied von der Glocke aufsagen konntest.

Der Katechismus mochte der überirdische Leitfaden des Daseins sein, die Bauernregeln waren die irdische Version, waren sie doch zu einer Zeit entstanden, in der das Wünschen noch geholfen hatte. Natürlich drehte sich in ihnen alles um einen einzigen Parameter: das Wetter.

Das Wetter war der eigentliche Gott, zu dem ein Bauer zu beten hatte. Vom Wetter hing das Leben ab. Noch heute gehst du, egal wo du bist, als Allererstes in der Früh hinaus und schaust nach Regen, Wind und Sonne. Das berührende Bild von außen – ob es je einer gesehen hat? – wie ein Junge in kurzen Lederhosen auf dem Traktor sitzt und sich durch die Jahreszeiten singt, schreit, verzweifelt: Ist der Januar hell und weiß, wird der Sommer gerne heiß. / Ist’s im Februar zu warm, friert man zu Ostern bis in den Darm. / Siehst du im März gelbe Blumen im Freien, magst du getrost deinen Samen streuen. / April und Weiberwill ändern sich schnell und viel (der Lieblingsspruch deines Vaters). / Gewitter im Mai bringen Früchte herbei. / Gibt’s im Juni Donnerwetter, wird gewiss das Getreide fetter. / Im Juli will der Bauer schwitzen, als untätig hinterm Ofen sitzen. / Ist’s in der ersten Augustwoche heiß, bleibt der Winter lange weiß. / Wenn im September viele Spinnen kriechen, sie einen harten Winter riechen. / Oktoberschnee tut Mensch’ und Tieren weh. / Trägt der (November-)Berg einen Hut, so wird das Wetter gut, trägt er keinen, wird es bald weinen. / Kalter Dezember und fruchtbar Jahr sind vereinigt immerdar.

Und doch hast du das alles überlebt: die Kindheit, die Jugend, das Erwachsenwerden, die damit verbundene Orientierungs- und Haltlosigkeit, die Kränkungen, das Schweigen, den Gram. Vielleicht hat dir ja geholfen, dass du die ersten sechs Lebensjahre über unbemerkt so gut wie taub gewesen bist (wie war das möglich?!), nicht umsonst kommt das Wort Gehorsam von Gehör, horchen und hinhören.

Bist groß geworden, groß und stark, mit deinen breiten Schultern, den sehnigen Muskeln, dem viel zu feinen Bauerngesicht mit den braunen, friedvollen Kälbchenaugen, die zögernd in die Welt hineinschauten und jetzt neugierig in eine Stadt hinausschauen, die du noch nicht verstehst, mit deinen sympathischen Grübchen, die sonst keiner hat, die bei jedem Lächeln aufspringen wie fleischgewordene Gefühlsgruben, in denen sich die existenten und nichtexistenten Gefühle anderer versammelt haben. Was ist passiert, Sauschneiderbauer-Seppl, dass du deine Familie, deinen Heimatort Leidern hinter dir gelassen und als Joe Wander nach New York gekommen bist?

Brav an die Gebote gehalten

Hast dich doch bis vor kurzem und also dein ganzes bisheriges Leben lang brav an die Gebote gehalten, die göttlichen, die bäuerlichen, die familiären, wenn auch mit den Jahren zunehmend widerwilliger, hast den Preis dafür bezahlt, den man fürs permanente Sichverstellen, Nicht-der-sein-Können, der man war, fürs Copy-and-Paste von Taten und Worten nun einmal zu berappen hat. Hast gehorsam gebetet, gearbeitet, gegessen, geschlafen und zwischen all den Sauschneiderbauer-Steinen wie ein rohes Ei im Nest, wie eine Kuckuckssau im Stroh gelegen.

Wolltest ja auch dazugehören, um zu überleben, wärst ja sonst mutterseelenallein gewesen, einer gegen alle, schneller, als du hättest schauen können, wärst du bei Ungehorsam neben deinem toten Bruder Pauli im Grab oder der behinderten Schwester Maria in der Nervenheilanstalt gelandet. Noch heute hast du die Worte der Sauschneiderbauer-Oma zu jeder Sekunde in jeder Gehirnwindung, die Sauschneiderbauer-Oma, die über den Zehn Geboten stand: "Ich bin Katharina Walburga Sauschneiderbauer, die Reine, die Herrschende, geborene Einser-Meier, erstverheiratete Schmiedbauer (immer der Schmied, nie der Schmiedl!), dein Gott, der dir das Leben geschenkt hat. Du sollst neben mir keine anderen Götter haben, sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde, sollst dich vor anderen Göttern nicht niederwerfen und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen. / Sechs Tage darfst du schaffen und jede Arbeit tun. Der siebente Tag ist ein Ruhetag, der mir allein geweiht ist."

Und tatsächlich bist du wie alle anderen jeden Sonntag deines Lebens nach dem Hochamt brav zu ihr gegangen, um dich anschauen zu lassen, beleidigen, manipulieren (selten auch loben), je nachdem, was ihre Vorsehung für dich bereitgehalten hatte. Hauptsache, du warst physisch anwesend und diese Leibeigenschaft wurde registriert. "Wir müssen zusammenhalten, ausnahmslos, immer, damit uns der Rest der Welt nichts anhaben (und wegnehmen) kann."

Auch sonst herrschte Krieg, man befand sich permanent im Kampf, hatte gerüstet zu sein, gegen alles und jeden. Dass man nur ja nicht zu kurz kam. Dass man nur ja keinem traute. Dass man nur ja immer vom Schlechten ausging, damit es dann besser werden konnte. (Was für eine Logik.) Dass man stets auf den eigenen Vorteil bedacht war. Horten, häufen, zusammentragen, bunkern, das Eigentum schützen, selbst wenn Mord- und Totschlag dafür nötig waren.

"Ehre deinen Vater und deine Mutter, wie es dir der Herr, dessen Herrin ich bin, zur Pflicht gemacht hat, damit du lange lebst und es dir gutgeht auf Erden. / Du sollst nicht morden. / Du sollst nicht die Ehe brechen. / Du sollst nicht stehlen. / Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen, außer es ist unumgänglich. Dann tu es und schweige darüber bis ins Grab. Nur deinem Herrn, deren Herrin ich bin, sollst du Rechenschaft ablegen, alles beichten und gestehen, damit ich dir vergeben kann, wenn ich will, und bis zu deinem Tode ein Druckmittel gegen dich in der Hand habe." (Daniela Emminger, 29.3.2020)