Soziale Kontakte einschränken, zu Hause bleiben, nur im Notfall zum Arzt gehen – das hat auf Dauer auch gesundheitliche Folgen.

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Was derzeit vor den Augen aller passiert, läuft in unserem Gesundheitssystem seit jeher, allerdings versteckt: Es werden Prioritäten gesetzt und Mittel rationalisiert. Aktuell geht es darum, möglichst viele Ressourcen für die Versorgung von Menschen mit Sars-CoV-2 aufzubringen. Anderswo kommen Patienten zu kurz – etwa jene, die chronisch oder psychisch krank sind und derzeit Arzttermine nicht wahrnehmen können, deren Operationen verschoben werden oder deren psychische Gesundheit durch die Maßnahmen leidet.

"Die gesundheitlichen, psychologischen, sozialen und ökonomischen Folgen dieser Maßnahmen betreffen die Gesundheit aller Altersgruppen. Dieser Aspekt wurde bis dato kaum thematisiert", sagt Martin Sprenger, Public-Health-Experte an der Med-Uni Graz.

Vor allem Versorgung chronisch kranker Menschen wird sich durch die aktuelle Situation "massiv verschlechtern, weil es jetzt andere Prioritäten gibt", sagt der niederösterreichische Patientenanwalt Gerald Bachinger. Er kritisiert, dass die primäre Versorgung von Patienten in Österreich "seit Jahren relativ schlecht ist". Bisher sei das System gerade so über die Runden gekommen, daher "wird uns diese Krise brutal auf die Defizite im System hinweisen", so Bachinger.

Vor allem fehlt es derzeit an Zeit. Denn chronisch kranke Menschen mit Diabetes, Krebs, Herzkrankheiten oder COPD brauchen Gespräche und persönliche Zuwendung, um Motivation und Gesundheitskompetenz aufzubauen – beides ist wichtig dafür, sich an eine Therapie zu halten.

Arztpraxen schließen

Auch wenn es derzeit noch keine Daten dazu gibt, lässt sich laut Bachinger beobachten, dass derzeit immer mehr Wahlarztordinationen plötzlich schließen, obwohl sie Patienten jahrelang gut betreut und davon auch gut gelebt haben. "Für die Patienten fehlt jetzt ein wichtiger Ansprechpartner", sagt Bachinger. Er weiß, dass derzeit die Anlaufstellen für eine Versorgung zunehmend weniger werden, auch weil es in Privatordinationen oft zu wenig Schutzausrüstung gibt und Mediziner sich selbst und ihre Mitarbeiter vor dem Coronavirus schützen wollen.

"Mit Sicherheit kommt es schon jetzt zu zahlreichen gefährlichen Verläufen und sogar – unter Normalbedingungen vermeidbar gewesenen – Todesfällen", sagt Sprenger – etwa durch die Entleerung der Krankenhäuser, striktere Aufnahmekriterien, weniger direkter Patientenkontakte in der hausärztlichen Praxis, die erschwerte Zugänglichkeit zu Fachärzten, vor allem zu bildgebenden Verfahren und zu Therapeuten sowie durch Einschränkungen bei Betreuung und Pflege. "Das wird durch die wenigen positiven Veränderungen, etwa weniger Luftverschmutzung, mit Sicherheit nicht kompensiert", so Sprenger weiter.

Auch im Bereich der psychischen Erkrankungen befürchtet Bachinger eine Verschlechterung der Situation. Sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen gab es schon vor der Krise Defizite in der Versorgung. Psychologe und Public-Health-Experte Benedikt Till von der Med-Uni Wien empfiehlt Betroffenen, weiterhin Termine bei Therapeuten und Psychiatern wahrzunehmen. Auch hier gibt es bereits Angebote wie Videokonferenzen. "Gerade für diese Menschen ist diese Situation besonders stressig", so Till. Psychisch Kranke sind eine Risikogruppe, die die negativen Folgen dieser Krise hart treffen könnte. "Da es keine Vorerfahrungen gibt, lassen sich die tatsächlichen Auswirkungen nach der Krise derzeit aber noch nicht abschätzen", sagt Till.

Stressig und belastend

Hinzu kommt: "Nun gibt es eine allgemeine Angstsituation und viele Unsicherheiten", so Bachinger. Auch bei gesunden Menschen. Ob während und nach der Krise die Zahl der Menschen ansteigen wird, die an psychischen Problemen leiden, sei bisher nicht absehbar. Für viele ist die aktuelle Situation durch die Einschränkungen aber stressig und mehrheitlich auch finanziell belastend. "Es kommt auch darauf an, wie der Einzelne damit umgeht", sagt Till. Und wie es gelingt, eine Tagesroutine beizubehalten, weiterhin mit den Mitmenschen über die Entfernung in Kontakt zu bleiben, Hobbys nachzugehen, sich zu entspannen, regelmäßig zu bewegen und gesund zu ernähren. Zudem ist die persönliche Belastung ganz individuell und hängt davon ab, ob man weiterhin arbeiten kann, Kinderbetreuungspflichten hat, über einen Garten verfügt oder auf dem Land oder in der Stadt lebt.

Für an Covid-19 erkrankte Menschen selbst sowie für ihre Angehörigen und Freunde ist die Situation jedenfalls eine emotionale Belastung, so Till. Studien aus Hongkong zeigen, dass Menschen, die Anfang der 2000er-Jahre an Sars erkrankt waren, heute zum Teil unter psychischen Erkrankungen, etwa Depressionen, leiden, so Till: "Nicht nur die Krankheit an sich war für sie belastend, sondern auch die Stigmatisierung und soziale Ausgrenzung, der sie ausgesetzt waren."

Kosten-Nutzen-Rechnung

Mit den aktuellen Maßnahmen der Regierung wird versucht, das Gesundheitssystem vor einer Überlastung zu bewahren. Wie das an anderer Stelle zu hohen Folgekosten führen wird, wird sich erst in vielen Monaten in Berechnungen von Statistikern zeigen. "Die Frage, welche und wie viele Menschen in Österreich derzeit aufgrund einer Unter- und Fehlversorgung einen Schaden erleiden und wie viele gesunde Lebensjahre dadurch verlorengehen, sollte rasch mittels geeigneter Methoden der Versorgungsforschung erhoben werden", fordert Sprenger.

Dutzende Forscherteams seien bereits mit der Frage beschäftigt, "wie viel Leid verhindert und wie viel Stress und finanzielle Belastung durch die Maßnahmen erzeugt wird", sagt Till. Auch mit dem Ziel, in Zukunft besser für künftige Pandemien gewappnet zu sein. Das Ergebnis werden Modelle sein, die, weil sie vielfach auf Schätzungen beruhen, "teilweise viele Variablen beinhalten und daher natürlich auch mit vielen Unsicherheiten verbunden sein werden", so Till. Eine abschließende Kosten-Nutzen-Rechnung aufzustellen könnte daher schwierig werden.

Patientenanwalt Bachinger versteht das Vorgehen der Politik: "Sie hat die Aufgabe, eine akute Pandemiesituation in den Griff zu bekommen. Über Langzeitfolgen kann dabei nicht immer nachgedacht werden." Es gehe um eine "möglichst wissensbasierte Abwägung von Nutzen und Schaden", sagt auch Sprenger.

Obwohl er die Maßnahmen unterstützt, hält Bachinger andere Perspektiven dennoch für zulässig und nennt als Beispiel jene 3.000 Menschen, die in Österreich jährlich an Spitalsinfektionen sterben, obwohl mit verstärkten Hygienemaßnahmen dagegen vorgegangen werden könnte. "Wir haben noch wenige Wochen vor Corona auf dieses Problem hingewiesen, doch damals hat das niemanden interessiert", sagt Bachinger. Vor diesem Hintergrund sei es daher "nicht ganz nachvollziehbar, warum bei diesem Virus jetzt so stark reagiert wird und die Bereitschaft dafür so groß ist, dass wir unser gewohntes gesellschaftliches Leben aufgeben", so Bachinger weiter.

Besser vorbereitet

Obwohl Virologen immer wieder davor gewarnt haben, dass eine Pandemie auf die Menschheit zukommen werde, habe diese Warnungen nie jemand ernst genommen. "Keiner hat damit gerechnet", sagt Bachinger, der sich sicher ist, dass wir aus dieser Krisensituation viel lernen werden. Etwa, wie unsere Gesundheitssysteme in Zukunft aufgestellt sein müssen, um mit solchen Krisen zurechtzukommen.

Eine große Herausforderung für unser Gesundheitssystem wird auch die Zeit nach der Krise. "In den kommenden Monaten muss Österreich ein Risikomanagement gelingen, das den Verlust von gesunden Lebensjahren minimiert", sagt Sprenger und fordert eine flexible, transparente und verständlich kommunizierte Exit-Strategie für die nächsten Monate.

"Jetzt gilt es, wissensbasiert zu entscheiden, ab wann und in welcher Region unter welchen Voraussetzungen die Kindergärten und Volksschulen wieder öffnen, Unternehmen die Produktion wieder hochfahren, Berufsgruppen wieder ohne und mit bestimmten Auflagen arbeiten gehen können und soziale Begegnungen, Feiern, Freizeitaktivitäten, Theater- und Gasthausbesuche wieder möglich sind", sagt der Public-Health-Experte. Nur so könne laut Sprenger der derzeit permanent entstehende Schaden durch die Maßnahmen minimiert werden, ohne dass gleichzeitig die Covid-19 Sterbefälle, über das Jahr gerechnet, zu einer wesentlichen Steigerung der Gesamtsterblichkeit führen und das Covid-19-Erkrankungsgeschehen die österreichische Krankenversorgung überfordert.

Im Übrigen sieht Patientenanwalt Bachinger auch Chancen in den aktuellen Entwicklungen. Dass Krankschreibungen und Medikamentenverordnungen nun übers Telefon möglich sind, sei ein großer Qualitätsgewinn für Patienten. "Wir hoffen alle, dass das auch noch nach der Krise möglich sein wird", sagt Bachinger. Denn für viele Patienten ist es ein großer Vorteil, dass sie "für ein dreiminütiges Gespräch nicht mehr zwei Stunden im Wartezimmer sitzen müssen". Insofern ist die Krise laut Bachinger auch eine Chance – eine Chance für einen Kulturwandel. (Bernadette Redl, 3.4.2020)