Im Gastkommentar spricht sich der Schulforscher Michael Schratz dafür aus, die Schülerinnen und Schüler nicht mehr in den alten Schulmodus zurückkehren zu lassen.

Cartoon: Michael Murschetz

Ist im Alltag etwas ver-rückt, versucht man es möglichst rasch wieder in den ursprünglichen Zustand zu bringen. Dieses menschliche Verhalten hat viel mit Gewohnheit und Routinen zu tun, die zur Aufrechterhaltung des "geordneten" (Zusammen-)Lebens erforderlich sind. Gewohnheiten und Routinen sind es allerdings auch, die Fortschritt in allen Lebensbereichen erschweren oder verhindern. Je stärker formalisiert und ritualisiert sie sind, umso mehr. Krisen setzen den Alltag allerdings außer Kraft.

Minister Heinz Faßmann hat in der ZiB 2 am 23. März mit Blick auf die 40.000 Maturantinnen und Maturanten einen zweiwöchigen Aufschub für die schriftliche Reifeprüfung gewährt, um Tests oder fehlende Schularbeiten nachzuholen. "Sie müssen auch wieder in einen Schulmodus zurückkehren", argumentiert er. Aber sollen die Schülerinnen und Schüler wieder in den alten Schulmodus zurückkehren? Der in der ZiB 2 interviewte Gymnasiast thematisierte die Unsicherheit und Angst, dass sie in der Klasse "noch nicht alles besprochen haben, was wir dann wirklich für die Matura brauchen".

Durchbrochene Routinen

Sollte über die Reifeprüfung nicht eher überprüft werden, was Gymnasiasten in den zwölf Jahren im Bildungssystem für das Leben gelernt haben, als was sie "für die Matura brauchen"? Non vitae sed scholae discimus ("Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir"), hatte bereits Seneca kritisiert. In dieser Hinsicht kann die temporäre Außerkraftsetzung schulischer Routinen eine Jahrhundertchance sein, wenn die Bildungsverantwortlichen die Erfahrungen aus der Corona-Krise klug zu nutzen wissen, um Schule weiterzudenken und Senecas Spruch in jene Richtung zu rücken, wie wir ihn immer gerne anwenden: "Nicht nur für die Schule, sondern für das Leben lernen wir."

Die griechische Wurzel im Wort Krise bezeichnet nicht eine hoffnungslose Situation, sondern beinhaltet bereits die Chance, den Wendepunkt. Daher sind Krisen auch Inkubationsphase und Geburtsstätte für Neues. Ob diese genutzt werden oder nicht, zeigt den Reifegrad einer Gesellschaft. Was Covid-19 bewirkt hat, wird in der Systemtheorie als Kontextsteuerung bezeichnet: Veränderte Umweltbedingungen können in hochkomplexen Systemen wie Gesellschaften nicht mehr direkt oder linear gesteuert werden. Sie erfordern Eigenverantwortung und Zusammenarbeit. Diese wird gegenwärtig vielerorts sichtbar.

Ein Innovationsschub

"Die Schule ist zu Hause eingezogen", eröffnete Lou Lorenz-Dittelbacher den ZiB 2-Beitrag. Ein Filmausschnitt zeigt, wie der Mathematiklehrer einer Schülerin per Internet Rückmeldung auf ihre Aufgaben gibt. Wie er kümmert sich die Lehrerschaft um jede und jeden ihrer Schützlinge. Lehrende berichten, dass sie Schülerinnen und Schülern gar nicht genug Aufgaben elektronisch übermitteln können. Von acht Uhr früh bis zehn Uhr abends sind sie im Kontakt, wie der Lehrer in der Sendung anmerkt. Sie zählen wie viele andere zu den Helden im Hintergrund, die Österreich derzeit funktionieren lassen.

Hier zeigen sich die Chancen für das österreichische Schulsystem, das in den internationalen Vergleichsstudien eher durchschnittlich abschneidet. Was die bisherigen Maßnahmen und überdurchschnittlich hohen Investitionen in Bezug auf einen Innovationsschub nicht vermocht haben, schaffte Covid-19 innerhalb kürzester Zeit.

Selbstständiges Lernen

Erstens: Bei den jüngsten Verboten zur Teilnahme an den Friday-for-Future-Veranstaltungen wegen Versäumen des Unterrichts haben sich die Verantwortlichen mit der Begründung schwergetan, zumal die Jugendlichen dort die im Lehrplan geforderte Eigentätigkeit, Selbstverantwortung und lebensnahes Lernen besser erwerben konnten als im Klassenzimmer. Derzeit dürfen die Schülerinnen und Schüler gar nicht in die Schule und lernen disloziert. Ein Virus macht’s möglich …

Zweitens: In den letzten Jahren wurde das Konzept "Flipped Classroom" propagiert – eine innovative Unterrichtsmethode, nach der das übliche Vorgehen umgekehrt wird: Schülerinnen und Schüler erarbeiten auf unterschiedlichen Wegen (Buch, Video, Internet, Recherche) selbstständig das erforderliche Wissen, die Lehrperson kümmert sich um das nachhaltige Verständnis, indem sie sich stärker mit jedem einzelnen Kind oder Jugendlichen auseinandersetzt. Dieser personalisierte Zugang zum Lernen wurde von den Lehrkräften nur zögerlich angenommen. Covid-19 hat es von heute auf morgen geschafft: Österreichweit sind die Schülerinnen und Schüler mit der Erarbeitung der Lerninhalte beschäftigt und tauschen sich über ihre Erfahrungen und das Gelernte mit ihren Lehrerinnen und Lehrern individuell aus.

Keine "Osterhasenpädagogik"

Paradoxerweise sorgt die Entgrenzung für eine entspanntere und produktivere persönliche Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden als vorher. Das spiegelt sich auch in der hohen Zustimmung zur Aussetzung des herkömmlichen Schulunterrichts durch die Bundesregierung bei Lehrkräften und Eltern (über 90 beziehungsweise 80 Prozent) wider.

Zur eingangs gestellten Frage: Das kann die Schule von morgen aus der Krise von heute lernen:

1.) Wir können auf die Professionalität unserer Lehrerinnen und Lehrer vertrauen: Sie zeigen, wozu sie imstande sind. Dazu brauchen sie autonome Spielräume, denn Schulen sind komplizierte Ensembles von Erfahrungen und Problemlösekompetenz und brauchen ein Klima des Vertrauens und achtsamen Miteinanders.

2.) Junge Menschen wachsen über sich hinaus, wenn man sie ernst nimmt und ihnen mehr zutraut (als sie sich möglicherweise selbst). Dazu ist es erforderlich, die Routine der "Osterhasenpädagogik" (Lehrer stellt Fragen, deren Antwort er bereits weiß) zu unterbrechen und sie wahrzunehmen, wie sie sind.

Besondere "Corona-Matura"

3.) Kinder und Jugendliche, die im schulischen Unterricht auf der Strecke bleiben, werden im gegenwärtigen Fernunterricht noch mehr abgehängt, weil ihnen – aus unterschiedlichen Gründen – die erforderlichen Ressourcen fehlen. Hierzu sind sowohl strukturelle Maßnahmen im Gesamtsystem als auch fallbezogene Unterstützungssysteme erforderlich. (Von erfolgreichen Bildungssystemen lässt sich hierzu einiges lernen!)

4.) Die "Corona-Matura" wird als besondere in die Geschichte eingehen. Anstatt in den Maturaklassen zwei Wochen "nachzulernen", um das "Versäumte" aufzuholen, schlage ich vor, dass die Aufgaben für die Reifeprüfung gestellt werden, um daraus zu lernen, was die jungen Erwachsenen über die Außerkraftsetzung des herkömmlichen Schulalltags in den Prüfungsfächern für ihr Leben gelernt haben und was nicht. Die Lehrerinnen und Lehrer sollten die Ergebnisse aufgreifen und zum Anlass für schulinterne Reformen zur Neuorganisation ihrer Unterrichtsphilosophie machen.

Das Coronavirus könnte zur wirksamsten Fortbildungsmaßnahme des Jahrhunderts werden, wenn dadurch das Schuljahr 2020/21 im Herbst damit beginnt, dass nicht Lernfragen den Unterricht bestimmen, sondern jene, die die Bewältigung der entstehenden Zukunft erfordert. (Michael Schratz, 29.3.2020)