Nach draußen nur mit Kernfamilie und Hund – wie lange lässt sich das durchhalten?

Foto: Christian Fischer

Wie lang ist "sehr, sehr lange"? Diese Frage stellen sich derzeit viele. Spätestens seitdem Kanzler Sebastian Kurz am vergangenen Wochenende diesen Zeitraum als Referenz dafür genannt hat, bis wann das Coronavirus Sars-CoV-2 unsere Gesellschaft noch in Atem halten wird.

Im Laufe der Wochen wurde stückweise bestätigt, was eigentlich vielen schon vorher klar war: Der Ostermontag, 13. April, ist nicht der Endpunkt dieser Spanne. Die Regierung will einen Großteil der Eindämmungsmaßnahmen über diesen Zeitraum hinaus in Kraft lassen.

Lediglich Teile davon könnten zurückgenommen werden, deutete der Wiener Mathematiker Niki Popper, der die Regierung berät, am Donnerstag an. Er präsentierte eine Kurve, die zeigt, dass die Infektionsraten auch dann sinken würden, wenn bestimmte Arbeitsstellen nach dem 13. April wieder öffnen.

Vorderhand offen bleibt die Frage: Wozu das alles?

Zunächst scheint die Antwort klar: Den Lockdown gibt es, um gefährdeten Bevölkerungsgruppen das Leben zu retten. Aber: Irgendwann muss er ja wieder vorbei sein. Und was ist gewonnen, wenn man das Ziel erreicht, wenn unter Aufbietung aller Kräfte und vieler Opfer die Fallzahlen auf ein Minimum begrenzt werden? Brauchte es dann nicht erst recht strenge Maßnahmen, um eine neue Welle zu vermeiden?

Eine zweite Chance

Also: was dann? Was ist das Ziel? Idealerweise: das Rad der Zeit zurückzudrehen. Auf Mitte Februar, als sich in Italien viele Fälle vorerst unbemerkt ausbreiteten und in Österreich noch keine Ansteckung registriert war. Gelingt das, gibt es eine zweite Chance.

Dann steht die Regierung am Scheideweg. Welche Maßnahmen sie setzt, wie weit sie den Lockdown lockert, wird nicht nur über die Ausbreitung der Krankheit entscheiden, sondern auch über die Schwere der Begleiterscheinungen: die wirtschaftlichen Folgen der Schließungen, die menschlichen der Isolation und jene für die Zukunft, die durch versäumte Schulstunden entstehen.

Es gibt eine pessimistische Sicht, was die Ausgangslage für eine solche zweite Chance betrifft. Eine Studie des Londoner Imperial College ist ihre wichtigste Quelle. Sie sieht den Beginn einer "zweiten Welle" für den Zeitpunkt voraus, an dem das Ende der rigiden Maßnahmen erreicht ist: Ohne Ausbreitung des Virus wird niemand immun.

Schlimmer: Der deutsche Virologe Christian Drosten warnt, eine zweite Welle werde so womöglich auf Herbst verschoben. Dann würde der neue Ausbruch erst recht mit dem Anstieg der normalen Grippefälle zusammenfallen und das System überlasten.

Unterschiedliche Zugänge

Die Forscher des Imperial College empfehlen aus diesem Grund, die strengen Maßnahmen beizubehalten, bis es in (womöglich) 18 Monaten eine Impfung gibt. Doch gegen ihre Sicht wächst Widerstand. Die Studie gehe davon aus, dass die Gesellschaft nichts gelernt habe und sich nicht ändere; dass sie beim zweiten Versuch nicht anders vorgehe als beim ersten – keine Hygienemaßnahmen treffe, nicht auf Masken setze, Menschen sich wieder genauso sorglos verhalten würden.

Erst Mitte vergangener Woche ist am Imperial College ein zweiter Bericht erschienen. "Beweise für erste Erfolge in China beim Verlassen der Eindämmungsphase", heißt er.

Dafür, dass Covid-19 mit weniger drastischen Maßnahmen kontrollierbar ist, gibt es abseits Chinas Anhaltspunkte – asiatische Staaten wie Südkorea, Japan, Singapur und Taiwan, die eine Eindämmung geschafft haben. Das Problem: Die Zugänge unterscheiden sich, ein Patentrezept lässt sich nicht ableiten. Und nicht alle Wege sind für Österreichs Demokratie und Gesellschaft gangbar.

Neuinfektionen senken

Aber zuerst zur wissenschaftlichen Seite: Entscheidend wird sein, wie hoch die Basisreproduktionszahl R0 ist. Ohne Maßnahmen, glaubt man am Robert-Koch-Institut in Deutschland, hat das neuartige Coronavirus einen R0-Wert von zwei bis 3,3. Sprich: Jeder Erkrankte steckt noch einmal im Schnitt bis zu 3,3 Menschen an. Solange dieser Wert über eins bleibt, steigt die Zahl der Betroffenen. Liegt er bei R0<1, sinkt sie.

Ziel der aktuellen Maßnahmen ist es, die Zahl der Neuinfizierten so zu senken, dass eine Überlastung des Gesundheitssystems verhindert wird. Das scheint zu funktionieren: Die Zahl der Sars-CoV-2-Positiven steigt zwar in Österreich weiter, das Tempo hat sich aber reduziert. Die Zunahme ist nun annähernd linear: Zwischen 700 und 900 Personen werden im Schnitt der letzten Tage positiv getestet.

Der Forscher Popper ist überzeugt, dass sich über die kommenden Tage die Evidenz verfestigen wird, wonach die Eindämmung funktioniert. Aber er sagt eben auch: Das neue Coronavirus wird nicht verschwinden. Es wird eine Reihe feinerer Maßnahmen brauchen, um die Epidemie zu kontrollieren. Welche könnten das sein?

Testen und verfolgen

"Tests, Tests, Tests", heißt es im österreichischen Kontext derzeit immer wieder. Der Kanzler hat es am Dienstag trotz anfänglicher Skepsis im grünen Gesundheitsministerium verlangt, die WHO fordert es seit langem. Zweifel gibt es freilich, wie schnell sich dafür Ressourcen aufbauen lassen – Rohstoffe sind zum Teil vergriffen. Und: Kann man der Krankheit allein dadurch Herr werden?

Der Beispielfall dafür heißt Südkorea. Nach einem anfänglich rapiden Anstieg auf rund 8000 Fälle Mitte März hat man es dort vorerst geschafft. Zuwächse unter hundert Fällen pro Tag waren zuletzt die Regel, großflächige Ausgangssperren und Geschäftsschließungen gab es nicht. Das Geheimnis: Kontaktpersonen Infizierter werden schnellstmöglich getestet – unabhängig von ihren Symptomen. Deshalb habe man Verdachtsfälle schnell in Quarantäne schicken können – und auch ernste Fälle schneller behandeln.

Gut 364.000 Tests hat das Land seit Beginn der Epidemie durchgeführt, pro Tag ergibt das mehr als 10.000. In Österreich, das etwa ein Fünftel der Bevölkerung Südkoreas hat, lag die Gesamtzahl zum Ende der Woche bei 39.500.

Big Data, aber anonym

Ein sicherer Weg ist das alles aber nicht. Denn Südkorea tut mehr als nur testen: Auch die rigorose Verfolgung von Verdachtsfällen sind Teil des Erfolgsmodells, das ist ressourcenintensiv. Die Regierung greift dazu die Location-Daten von Handys ab und ruft alle, die sich in der Nähe einer infizierten Person befunden hatten, per SMS zu Test und Quarantäne. Andernfalls drohen Strafen. Datenschutzrechtlich ist das bedenklich.

Kurz verfolgt wohl einen daran angelehnten Ansatz, wenn er "Big Data" als Teil des Auswegs aus der Krise nennt. Die Mittwoch vorgestellte App "Stopp Corona" des Roten Kreuzes beruht allerdings auf Freiwilligkeit und Mitarbeit – jeder muss seine Kontakte selbst speichern.

Dabei sind gar nicht zwingend Eingriffe in die Privatsphäre nötig. Das israelische Weizmann-Institut für Wissenschaften hat einen Online-Fragebogen erstellt, den mittlerweile mehr als 300.000 Menschen dort ausgefüllt haben. Sie werden nach einigen Daten – Alter, Geschlecht, Ort – befragt, und anschließend zu ihrem Zustand. Die Ergebnisse haben dabei geholfen, Häufungen von Covid-19-Symptomen, die dem Gesundheitssystem sonst entgangen wären, an bestimmten Orten zu finden. Die Ergebnisse helfen den Behörden dabei, zu wissen, wo sie mit den Tests suchen müssen.

Statistisches Artefakt

Der medizinische Direktor des Wiener Krankenanstaltenverbunds (KAV), Michael Binder, plädierte dafür, auf flächendeckende Tests zu verzichten, die Ressourcen in die Nachverfolgung von Clustern mit Ansteckungsfällen zu investieren und diese Personen gezielt zu isolieren. Auch dafür gibt es ein Erfolgsbeispiel: Japan. Dort wird wenig getestet, weshalb der Rückgang der Ansteckungsfälle lange als statistisches Artefakt galt.

Weil aber auch die Zahl der Todesfälle schon länger kaum steigt, scheint mittlerweile klar: Der Ansatz, gezielt nach Häufungen zu suchen, hat dort funktioniert. Womöglich geht das aber nur, weil viele Japanerinnen und Japaner strikte Hygienemaßnahmen einhalten. Und weil Masken, die zwar kaum vor Ansteckung, aber stark vor Weitergabe des Virus schützen, weit verbreitet sind.

Von allem etwas

Für Österreich zeichnet sich als möglicher Weg eine Art Kombination beider Varianten ab. Die könnte so aussehen: Die Wirtschaft wird im Laufe des April langsam wieder hochgefahren. Währenddessen wird mit der "Lupe" überwacht, wo das Coronavirus schlummert.

Möglich wären stichprobenartige Tests in Betrieben und Regionen. Wenn es positive Fälle gibt, wird im jeweiligen Bereich wieder die Stopp-Taste gedrückt: Der Betrieb wird heruntergefahren, der Ort isoliert, die betroffene Schule geschlossen. Parallel bleiben einige Beschränkungen aufrecht, etwa, was Freizeitkontakte betrifft.

Bloß: Was in den theoretischen Simulationen gut klingen mag, stößt in der Praxis an Grenzen. Einen großen Industriebetrieb mit tausenden Mitarbeitern kann man nicht ständig rauf und runter fahren. Egal, wie gut die Lupe ist: Auch aus dem engmaschigsten Netz entweichen immer Fälle.

Ungelöste Probleme

Zudem gibt es ungelöste Probleme: In den Schulen den Unterricht bis September auszusetzen, bedeutet eine große Kontaktreduktion und weniger Erkrankungen. Bleiben die Schulen geschlossen – wozu es laut Regierung noch keine Entscheidung gibt – ließe sich also die Wirtschaft eher hochfahren. Aber nur theoretisch: Solange die Schulen de facto gesperrt sind, bedeutet dies, dass die Wirtschaft nicht hochgefahren werden kann. Denn: Wer kümmert sich um die Kinder?

Südkorea und Japan sind zudem nur bedingt mit Österreich vergleichbar: Nicht nur, weil Japan eine Insel und Südkorea eine Halbinsel ist, Abschottung also leichter möglich ist. Beide Staaten haben auch jahrzehntelange Erfahrung im Umgang mit Pandemien, Stichwort Sars 2002/2003.

Klar ist aber auch, dass der aktuelle Zustand nicht sehr lange durchzuhalten ist, dass das Leben in die Gänge kommen muss. Der ansonsten eher zurückhaltende Chef des Wirtschaftsforschungsinstituts, Christoph Badelt, sagt, dass aktuell mehr als 850.000 Arbeitnehmer von Schließungen und Sperren betroffen sind.

Bald, wenn auch immer mehr Industriebetriebe sperren, werden es über eine Million sein. Das aufzufangen, über Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit, sei nicht möglich. Badelt: "Gesundheitliche und ökonomische Folgen gehören abgewogen. Normal ist die Antwort einfach: Gesundheit geht vor. Aber: Wenn die aktuelle Situation viel länger anhält, wird es Probleme ökonomischer Natur geben, die unsere Gesellschaften auch nicht aushalten".

Ein Bild, wie es in Österreich vermieden werden soll: erschöpfte Mediziner in einer Klinik in Peking.
Foto: Imago / Xinhua / Fei Maohua

Und was ist mit den Kindern? Wenn Schulen bis Herbst geschlossen bleiben, wäre das vermutlich verkraftbar. Aber wenn das Virus dann zurückkehrt, kurz vor der Influenza-Zeit, gäbe es die zweite Welle. Der Grazer Public-Health-Experte Martin Sprenger warnt vor den sozialen und gesundheitlichen Kosten der Isolation.

Aktuell sind etwa viele Routineuntersuchungen ausgesetzt: Wie lange geht das gut? Experten wie er und Popper fordern daher eine offene, auch schmerzhafte, Debatte, darüber, wie viele Leben auf der einen Seite überhaupt gerettet werden können – und, auf der anderen Seite, welche Folgen des Lockdown noch verkraftbar sind.

Sichere Antworten hat niemand, aber vielleicht Wegweiser. Popper sagt etwa, dass ein Verzicht auf Freizeitkontakte leichter fallen werde, als die Wirtschaft länger stillzulegen. Public-Health-Experte Sprenger meint, dass das Ziel nur sein könne, die Sterblichkeit in Österreich über das Jahr gerechnet relativ stabil zu halten.

Etwa 85.000 Menschen versterben in Österreich pro Jahr, 2020 soll das nicht viel höher sein. Es werde aber Monate geben, wo die Sterblichkeit deutlich höher sein werde. Für Sprenger bedeutet das zweierlei: Das Leben müsse stärker in die Gänge kommen, Schulen und Betriebe gehören geöffnet. Parallel gehöre der Schutz älterer Menschen und Risikogruppen verstärkt. So in etwa könnte das Ziel lauten.

"Ein harter Brocken" für Alte

Doch auch da gibt es Probleme. Alte Menschen und Risikogruppen können nicht dauerhaft isoliert werden. Der Soziologe und Gerontologe Franz Kolland sagt: "Schon allein, dass die Idee ständig medial ventiliert wird, ist für alte Menschen ein harter Brocken." Es brauche vielmehr gerade jetzt "eine hohe Intimität", sonst würden auch jüngere Menschen den Umgang mit älteren nicht mehr richtig ein- oder sogar verlernen.

Über soziale Medien lasse sich zwar viel abfedern, aber eben nur, wenn man sie auch nutzen könne – "dafür müssten Sie die 40 Prozent Smartphone-losen Menschen entsprechend ausstatten". Sollte es zu einer längerfristigen Distanzierung kommen, bedeute das emotionalen Stress.

Die Frage der Versorgung mit Gütern lasse sich bewältigen – das Gefühl, an den Rand gestellt zu werden, aber kaum. Genau das sei für ältere Menschen besonders schlimm, vor allem, wenn es keine Perspektiven gebe. Kolland: "Für einen 80-Jährigen ist seine Zukunftsüberlegung eine andere als für einen 30-Jährigen. Da muss ich kurz- und mittelfristige Optionen anbieten, sonst denke ich an ihm völlig vorbei."

Das zeigt auch das Beispiel jener asiatischen Staaten, die früh im Februar harte Maßnahmen ergriffen hatten: In Singapur und Hongkong gab es zuletzt Fallsteigerungen – Ermüdung soll der Grund sein. Menschen lassen sich nicht ewig isolieren. (Manuel Escher, András Szigetvari, 28.3.2020)