Veronika Bohrn Mena, Autorin von "Die neue ArbeiterInnenklasse – Menschen in prekären Verhältnissen", befasst sich mit jenen Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt stark benachteiligt werden. Sie fordert auch für sie finanzielle Netze und kritisiert die Sparpolitik der vergangenen Jahre, die wir jetzt in der Corona-Krise zu spüren bekämen.

STANDARD: Dieser Tage geht es viel um Menschen in ihrem Homeoffice. Wie viele arbeiten überhaupt im Homeoffice?

Bohrn Mena: Wie viele es derzeit sind, wissen wir noch nicht. Aber vor der Corona-Krise waren es bei den Angestellten nur 3,8 Prozent, bei den Akademiker*innen sind es hingegen acht Prozent. Homeoffice ist also normalerweise ein Nischenphänomen. Umso höher die berufliche Stellung und das Einkommen, desto höher war die Wahrscheinlichkeit, dass man Homeoffice machen konnte. Jetzt ist es sicher anders, und viel mehr Menschen können von zu Hause arbeiten, trotzdem geht das vor allem im Angestelltenbereich, es sind vor allem Computerarbeitszeiten, die nach Hause verlagert werden. Handwerkliche Arbeiten, Dienstleistungen, Nahrungsmittelproduktion oder die Arbeit am Menschen muss weiterhin in den Betrieben stattfinden, sofern man nicht gekündigt wurde oder in Kurzarbeit ist.

STANDARD: Was ändert sich für prekär Beschäftigte?

Bohrn Mena: Die freien Dienstnehmerinnen können sich jetzt zwar an den Härtefonds wenden. Die angekündigte Milliarde ist aber nicht viel für die rund 300.000 Soloselbstständigen und freie Dienstnehmer*innen. Pro Kopf sind nur ein- bis maximal zweitausend Euro vorgesehen, und die Auszahlungskriterien sind sehr streng, damit kommt man nicht weit. Besonders schwer wird es jene treffen, die bisher scheinselbstständig oder informell beschäftigt waren. Etwa die Reinigungskraft, die privat in mehreren Haushalten schwarz geputzt hat. Die, die nichts nachweisen können, schauen jetzt komplett durch die Finger. Für sie bräuchte es auch einen Härtefonds, ohne dass sie nachweisen müssen, dass sie in finanzieller Not sind. Die Leiharbeitskräfte können jetzt erstmals in die Kurzarbeitsregelung, das ist sehr positiv. An den Arbeitslosenzahlen sieht man jetzt aber, dass eine der stark betroffenen Gruppen die Leiharbeitskräfte sind, obwohl für sie Kurzarbeit angewendet werden könnte.

Die Autorin und Gewerkschafterin Veronika Bohrn Mena.
Foto: privat

STANDARD: Sie empfehlen auch einen Härtefonds für prekär Beschäftigte ohne Ansprüche und Menschen in Notlagen. Wie soll sich das alles ausgehen?

Bohrn Mena: Das ist immer eine Frage des politischen Wollens. Wir haben uns auch die Hypo geleistet, die Eurofighter. Da sind auch Milliardenbeträge geflossen. Die Prioritäten müssen jetzt dort liegen, dass Menschen vor einer existenziellen Notlage bewahrt werden. Das kann man volkswirtschaftlich argumentieren: Die Kaufkraft der Menschen muss erhalten bleiben. Wenn wir über 500.000 Arbeitslose haben, die nur noch 60 Prozent von ihrem vorhergehenden Einkommen haben – wer soll da noch konsumieren? Und das andere Argument ist ein humanes. Was bringt uns ein hübsches Budget, wenn wir hunderttausende Menschen haben, die ihre Stromrechnungen und Mieten nicht mehr zahlen können? Die jetzige Situation zeigt auch, dass die Fiskalpolitik der EU der letzten Jahre in einigen europäischen Ländern zulasten der Gesundheits- und Sozialsystem ging: In den letzten zehn bis dreißig Jahres hieß es, wir müssen im System sparen, auch im Gesundheitssystem. In Österreich hat uns die Kassenfusion bis jetzt über eine Milliarde gekostet. Wenn wir ehrlich sind, ging es dabei nur um eine neue Machtverteilung und dass die Arbeitergeber*innen mehrheitlich über die Versicherungsbeiträge entscheiden dürfen. Das hätten wir uns auch sparen können.

STANDARD: Österreich hat nur alte Zahlen über die Zeiteinteilung von Frauen und Männern. Besteht die Gefahr, das durch diese Krise unbezahlte Arbeit noch stärker Frauen zugeteilt wird?

Bohrn Mena: Die Durchführung einer neuen Zeiterhebungsstudie steht zwar im Regierungsprogramm, sie wurde allerdings noch immer nicht beauftragt. Doch genau jetzt wird die absurd hohe Mehrfachbelastung von Frauen sichtbar. Vor allem Alleinerzieherinnen sind jetzt hochgradig prekär. Wie soll eine Alleinerzieherin einerseits die Kinder betreuten und andererseits arbeiten gehen? Wir haben über die jetzige Situation ja noch keine Studien, deshalb kann ich nur anekdotisch erzählen, was ich aus meinem Umfeld mitbekomme: Die meisten Frauen, die jetzt Homeoffice machen, arbeiten in der Nacht, wenn die Kinder schlafen. Das Worst-Case-Szenario, das leider auch vorkommt, ist: Beide Eltern sind zu Hause, und der Mann sitzt in seinem Arbeitszimmer und nimmt sich Ruhe, um zu arbeiten, während sich die Frau mit den Kindern abstrampelt und dann abends und in der Nacht ihrer Erwerbsarbeit nachgeht.

STANDARD: Wie ließe sich eine stille Retraditionalisierung verhindern?

Bohrn Mena: Es ist keine neue Lösung, sie liegt aber immer noch auf dem Tisch: Wir brauchen eine Reduzierung der Normalarbeitszeit. Bei der Arbeitszeit liegen wir auf Platz zwei, nur in Griechenland wird noch länger gearbeitet. Wir arbeiten also irrsinnig lange, gleichzeitig haben wir eine der höchsten Teilzeitquoten in Europa, und das zeigt, dass die Arbeitszeit zwischen den Geschlechtern in Österreich sehr ungerecht verteilt ist. Die bezahlte Arbeit wird von Männern erledigt, sie machen Überstunden, arbeiten 44 bis 46 Stunden in der Woche. Und die unbezahlte Arbeit wird von Frauen erledigt, die deshalb bei ihrer Erwerbsarbeit in der Teilzeit sind. Und es ist zu befürchten, dass sich das noch weiter verschärft. Hinzu kommt, dass Frauen in den systemrelevanten Berufen nicht erst jetzt an die Belastungsgrenze kommen, die waren vorher schon am Anschlag. Es ist ja nicht so, dass die Leute aus dem Gesundheitsbereich jetzt total fit und voller Elan in die Krise starten, in der jetzt die Höchstarbeitszeiten ausgehebelt sind. Wir müssen uns deshalb die Frage stellen: Wie lange halten die das aus? Auch die im Handel. Die Frauen in diesen Berufen haben jetzt enorme Belastungen im Beruf und durch ihre Arbeit zu Hause. Ich hoffe, dass durch die Krise sichtbar wird, welche Berufe wirklich unverzichtbar sind. Es gibt hochbezahlte Berufe, die jetzt niemandem fehlen. (Beate Hausbichler, 29.3.2020)