Im Gastkommentar erklärt Johan Frederik Hartle, Rektor der Akademie der bildenden Künste Wien, warum die Praxis der Künste auch in Zeiten der Krise gefragt ist.

Die gegenwärtige Krise mitsamt ihren Verhaltensregeln ist ein interessantes ästhetisch-politisches Phänomen – Grund genug, um aus Perspektive der Künste und ihrer Institutionen über sie nachzudenken. "Ästhetisch" darf hier allerdings nicht missverstanden werden: Kaum etwas an der Covid-19-Krise ist schön, erbaulich oder erfreulich. Für zahllose Menschen ist sie ökonomisch oder gesundheitlich bedrohlich. Viele hat das Virus bereits das Leben gekostet.

Covid-19 – eine Glasskulptur des britischen Künstlers Luke Jerram.
Foto: APA / AFP / Adrian Dennis

Fernab vom Wahren, Guten und Schönen, berührt die Pandemie mit all ihren Nebeneffekten eine Vielzahl von Themen und Fragen, die sich mit der Sphäre der Künste überschneiden: Fragen der Wahrnehmung, der räumlichen Gestaltung sozialer Interaktion, der Reflexion von Lebensformen. Etymologisch geht Ästhetik auf den Begriff der Wahrnehmung (aisthesis) zurück, und historisch hat sie sich immer mehr mit der Gestaltung von Lebensformen verschränkt. In genau diesen Hinsichten überlappen sich Ästhetik und Politik. Das macht das Reflexionspotenzial der Künste in Krisenzeiten interessant.

Universeller Verdacht

Vordergründig ist die Situation von Covid-19 eine "anästhetische", eine Situation jenseits der Wahrnehmung. Das Virus ist unsichtbar, und auch seine Trägerinnen und Träger lassen sich mit dem bloßen Auge nicht identifizieren. Das erzeugt eine Situation universellen Verdachts, deren eigentlicher, versteckter Sinn sich unterhalb der sichtbaren Oberfläche bewegt. Jeder Mensch im Supermarkt könnte das gefährliche Virus übertragen, das Virus könnte sich auf jeder Türklinke verstecken. Damit gibt es keine profanen Güter und sicheren Situationen mehr, und das alltägliche Leben wird umfassend zu einer Herausforderung der permanenten Neubeurteilung. Solche erweiterten Techniken der Interpretation liegen den Künsten nicht fern. Seit Marcel Duchamps Readymades ist ein Flaschentrockner nicht mehr nur ein Flaschentrockner, sondern Träger einer potenziell viralen Bedeutungssuggestion.

Durch die Unterbrechung alltäglicher Abläufe wird in der Corona-Krise Raum geschaffen für gesellschaftliche Fantasie. In vielerlei Hinsicht ist die Corona-Krise auch eine Maschine der gesellschaftlichen Imagination. Utopien sind allerdings nicht zwangsläufig ein Segen. Ökofaschistische, neodarwinistische Fantasien von einer umfassenden Marktbereinigung – dass die Natur sich zurückhole, was man ihr angetan habe – und fremdenfeindliche Erklärungsmuster (von der "chinesischen" oder "italienischen" Krankheit) erträumen implizit einen purifizierten "Volkskörper". Träumen allein wird deswegen nicht reichen, um am Ende gesellschaftlich gestärkt aus Covid-19 hervorgegangen zu sein.

Künste reden mit

Es wird darum gehen, Ressourcen wahrnehmen zu lernen, zwischen Perspektiven zu differenzieren, mit ihnen zu experimentieren. All das gehört zur Praxis der Künste. Deswegen sind sie keine kompensativen Sinnquellen, die uns beschaulich über die "schwierigen Zeiten" hinwegtragen. Viel mehr eröffnen die Künste das Nachdenken über ästhetisch-politische Ordnungen, so wie Covid-19 eine ist. Sie greifen in diese Ordnungen ein, um uns auf Ebenen handlungsfähig zu machen, die von der politischen Ausdrucksweise und der administrativen Rhetorik normalerweise verdeckt werden.

Wenn es also um die Verschiebung von Parametern der Wahrnehmung oder die Reflexion von Lebensformen geht, dann haben die Künste ein Wort mitzureden. Wie es der Kulturhistoriker Egon Friedell formulierte, Kultur ist ein Reichtum an Problemen. Die Kunstakademien schlafen in diesen Wochen nicht. (Johan Frederik Hartle, 28.3.2020)