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Unter den "odden Orten", die der Titel dieser Rundschau verspricht, mag der folgende als der gewöhnlichste erscheinen: Raunburg, eine (fiktive) Stadt in der ehemaligen DDR. Aber die Seltsamkeit eines Orts hängt auch ganz wesentlich von den Erfahrungen ab, die man dort gemacht hat, und den Erinnerungen, die man mit ihm verknüpft. Frank Haubolds neuer Mystery-Roman "Dämonenstadt" handelt also primär von inneren Dämonen; ein paar äußere mischen allerdings auch mit.

Mene mene tekel u-parsin ...

Die Dinge geraten in Bewegung, heißt es mehrfach im Text. Und tatsächlich mangelt es nicht an Omen, die den Protagonisten Markus Blau, einen schon etwas angejahrten Schriftsteller, zur Rückkehr in sein altes Heimatstädtchen Raunburg zu drängen scheinen. Der Anruf eines alten Bekannten aus der Schulzeit ("Hier passieren die komischsten Sachen.") ist darunter noch das normalste. Aber Markus hat auch Träume, die ihn in die gleiche Richtung ziehen. Und sie hinterlassen Spuren in der Realität: Eine Mappe mit Zeichnungen von Markus' Elternhaus taucht erst im Traum auf und manifestiert sich danach in seinem Zimmer. Zu guter Letzt schwebt auch noch eine sprechende Elster wie eine Variation von Edgar Allan Poes Rabe ein und verkündet: "Türen werden aufgestoßen."

Markus mag zum Einzelgängertum neigen und sich in seiner langjährigen Routine zurechtgefunden haben. Man kann sich aber des Eindrucks nicht erwehren, dass darunter die tiefe Sehnsucht liegt, dass noch einmal im Leben etwas Bedeutendes geschehen möge. Er wird also aktiv, macht sich auf nach Raunburg und nimmt zugleich – Doppelstrategien sind immer gut – Kontakt zu einem Hacker auf. Der erinnert sehr an die Einsamen Schützen aus "Akte X", auch wenn er sich ironischerweise "Mulder" nennt, und spielt Markus in der Folge immer wieder entscheidende Informationen zu.

Es wird blutig

Zweite Hauptfigur ist Walter Hombach, ein ehemaliger DDR-Polizist im Ruhestand. Er untersuchte seinerzeit eine Reihe von Vermisstenfällen, musste seine Ermittlungen aber auf Druck von oben einstellen. (Zwei kurze Prologkapitel setzen uns gleich zu Beginn des Romans ins Bild, was damals ungefähr geschehen sein muss.) Jahrzehnte später wird Walter nun auf sehr nachdrückliche Weise dazu gebracht, diese Fälle wieder aufzunehmen.

Auftritt der geheimnisvollen Frau Nr. 2: Auch sie manifestiert sich aus der Traumwelt in der Realität. Anders als die – in mehrfachem Sinne – Traumfrau, die Markus zur Begleiterin wird, tritt diese jedoch als Racheengel auf. Einige Morde von bemerkenswerter Grausigkeit gehen bereits auf ihr Konto. Und wenn Walter ihr nicht bei ihrer Suche nach Vergeltung hilft, wird er ihr nächstes Opfer sein.

Recht und Rache

Die Umstände werden Markus und Walter zusammenbringen und aus ihnen ein zwar ungewöhnliches, aber gut funktionierendes Ermittlerduo machen. Auch wenn sie just den Umstand, der sie am stärksten verbinden sollte – nämlich dass sie beide Begegnungen mit dem Übernatürlichen hatten – voreinander geheimhalten. Haubold hat die Steinchen seines Mosaiks so ausgelegt, dass sie nur langsam und mit Bedacht zu einem Ganzen zusammengefügt werden können. Ein solches Steinchen ist übrigens auch das Auftreten eines von unbekannter Seite engagierten Auftragskillers, der die Konstruktion noch einmal ein Stück verkompliziert – dennoch geht das Ganze am Ende makellos auf.

Auch wenn die Phantastik-Elemente in "Dämonenstadt" geringer dosiert sind als in früheren Werken Haubolds, sie sind vorhanden. Und sie scheinen im Gegensatz zu einem zeitgeschichtlichen Kontext aus Staatsverbrechen und Vertuschung zu stehen. Tatsächlich fügen sich das Übernatürliche und das Weltliche, der dämonische Feldzug der "Wiedergängerin" und die kriminologischen Ermittlungen aber nahtlos aneinander. Immerhin ist, nüchtern betrachtet, auch der Kern jeder Geistergeschichte die Aufarbeitung der Vergangenheit. Doch in welcher Form erfolgt diese Aufarbeitung, durch die Suche nach Gerechtigkeit oder als blinde Rache, die vor keinem Mittel zurückschreckt? Dieser Unterschied trennt die Romanfiguren stärker als ihre Zugehörigkeit zu Diesseits oder Jenseits.

Schreiben aus dem Leben

Spätestens wenn das erste Songzitat von Jim Morrison im Text auftaucht, würde man "Dämonenstadt" als einen Haubold erkennen, selbst ohne auf dem Cover nachgeschaut zu haben. Vertraut dürfte langjährigen Lesern auch das Grundmotiv sein: Die Rückkehr in die alte Heimat und das Wiederaufleben der Vergangenheit waren beispielsweise auch das Thema der Erzählungen "Die Stadt am Fluss" und "A flor dos sonhos", die im Sammelband "Gesänge der Nacht" enthalten sind. Wie schon in früheren Erzählungen hat Haubold wieder auf eigene Erinnerungen zurückgegriffen; "Dämonenstadt" ist sein bisher vielleicht persönlichstes Werk.

Das kann witzig sein: Wenn etwa Markus grimmig seine Space-Opera-Trilogie "Valkyries" in den Wind schießt, ist das ein augenzwinkernder Verweis auf Haubolds Reihe "Götterdämmerung". Aber meist geht es tiefer rein: Wie die harschen Abschiedsworte, die Markus von seiner aktuellen Freundin-mit-Vorzügen mit auf den Weg nach Raunburg gegeben werden. Sie sind eine gnadenlos präzise Abrechnung mit der Zumutung, die ein Schriftsteller für seine Mitmenschen sein kann. Bei der Berufswahl seines Protagonisten hat Haubold nicht von ungefähr dieselbe Entscheidung getroffen, die auch Stephen King wieder und wieder und wieder gefällt hat. Am besten schreibt man eben über die Dinge, die man kennt.