Wien – Österreichs Handel gerät immer tiefer in die Krise. Mehr als 70 Prozent der Verkaufsflächen liegen still, da sie aufgrund der Coronakrise nicht mehr betreten werden dürfen. 40.000 Betriebe kämpfen um ihre Existenz. Der Marktforscher Regioplan beziffert ihren täglichen Umsatzverlust mit in Summe knapp 140 Millionen Euro brutto. Die bis aufs äußerste angespannte finanzielle Lage reißt eine tiefe Kluft in der Branche auf. Sie befeuert Konflikte, die Anwälten auch nach Covid-19 wohl lange Zeit ein breites Spielfeld bieten wird.

Den Kopf in den Sand zu stecken spielt es bei Gärtnern nicht. Ihre Ware verwelkt.
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Es geht um die Frage, welche Produkte der Grundversorgung dienen und welche nicht. Supermärkte verkaufen neben Lebensmitteln traditionell eine breite Palette an Non-Food-Sortiment. Ob Fahrräder, Rasenmäher, Gartenerde, Schuhe oder Spielzeug: Fachhändlern war das Wildern in fremden Gefilden stets Dorn im Auge, aber sie lernten damit zu leben. Nun aber liegen die Nerven blank.

Händler, die geschlossen halten müssen, sehen Lebensmittelketten im lukrativen Ostergeschäft aus dem Vollen schöpfen, während sie selbst auf bezahlter Ware sitzenbleiben, die täglich an Wert verliert oder gänzlich verdirbt. Quer durch die Branche, unter Blumenhändlern, Bergsportspezialisten bis hin zu Spielwarenhändlern, ist von massiver Wettbewerbsverzerrung und Diskriminierung die Rede.

Erste Anzeigen

Einzelne Unternehmer wie ein Vorarlberger Spielwarenanbieter haben bereits Anzeige gegen Handelsketten erstattet. In der Wirtschaftskammer und im Handelsverband laufen die Telefone aufgrund empörter Händler heiß. An die Bundesregierung ergehen Hilfsappelle.

Ludwig Starkls Gewächshaus in Wien grenzt Mauer an Mauer an einen Diskonter. Er sehe täglich zu, wie sein Nachbar regelrechte Blumenmärkte veranstalte, Kunden bei ihm säckeweise Erde kauften, während er seine eigenen Pflanzen entsorgen müsse, erzählt der Gärtner. Seine 280 Mitarbeiter ziehen seit Jänner Gemüse-, Beet- und Balkonpflanzen. Ostern ist Hochsaison. Was bis dahin nicht verkauft wird, wird zu Dünger; 60 Prozent des Jahresumsatzes sind damit weg.

Österreichs Handel im Koma: 40.000 Betriebe sind behördlich gesperrt.
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Starkl sieht sich von der Regierung im Stich gelassen. "Sie lässt zu, dass der Lebensmittelhandel weiterhin offensiv Artikel bewirbt und verkauft, die definitiv nicht zum täglichen Bedarf zählen." Vor allem Diskonter hielten sich nicht an ihr Versprechen, Non-Food hintanzuhalten, klagt er. "Schauen Sie sich die aktuellen Flugblätter an." Mehrseitig würden da Tischtennistische ebenso beworben wie Hochbeete, Kinderspielwaren und Wanderausrüstung.

Am längeren Hebel

Der Grabenkampf im Handel beschäftigt auch die Regierung. Überlegungen gedeihen, gesetzlich einzugreifen. Dagegen spricht ihr Wissen um die Macht großer Lebensmittelketten, die gerade in Zeiten der Krise auf dem längeren Ast sitzen. Wer sie vergrämt, riskiert unter Konsumenten Ängste zu schüren. Gleich zu Beginn klare Regeln zu schaffen, wurde verabsäumt. Unterschiedliche Ressorts erteilten widersprüchliche Weisungen und Signale.

Großhändler wie Metro machten Non-Food-Abteilungen vielfach unzugänglich. Im Einzelhandel herrscht hingegen Willkür. Bei Müller etwa in Form eines Zick-Zack-Kurses. Der Drogeriekonzern sperrte einzelne Abteilungen für Spielwaren, Parfüm, Schreibwaren und Geschirr zu, um sie nach starken Umsatzeinbußen doch wieder zu öffnen, ehe er erneut zurückruderte.

Verunsicherung der Konsumenten

Spar-Sprecherin Nicole Berkmann appelliert daran, das heikle Thema durch die Brille der Konsumenten zu betrachten. Großflächiges Abriegeln von Sortiment würde diese noch mehr verunsichern. "Wir können auch keine Mauern in den Filialen aufziehen." Und es sei den ohnehin stark belasteten Mitarbeitern nicht zumutbar, mit Kunden zu debattieren, die sich nicht an die Einschränkungen hielten. Ein Verkaufsverbot für Non-Food-Sortiment bewirke zudem, dass sich große Teils des Konsums schlichtweg in den internationalen Onlinehandel verlagerten. Berkmann: "Amazon zahlt in Österreich keine Steuern, wir schon."

Supermärkte haben in Zeiten der Krise eine Sonderrolle. Wie ihre Grenze liegt, darüber gehen im Handel die Wogen hoch.
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Lidl versichert, die Bewerbung und Menge an Non-Food-Ware, die in die Regale gelange, deutlich gekürzt zu haben. Was nicht verkauft werden könne, erhöhe aber die Lagerkosten. Andere Händler weisen auf den hohen logistischen Aufwand hin, der nötig sei, um Ware auszuschlichten. Sie aus Solidarität mit anderen Betrieben wegzuschmeißen, sei Unsinn.

"Am aktuellen Sortiment kurzfristig etwas zu verändern, würde Kunden verunsichern und einen Mehraufwand bedeuten, der derzeit nicht zu bewältigen ist. Wir kämpfen mit unseren Mitarbeitern jeden Tag, um die Nahversorgung aufrecht zu erhalten", richtet der Diskonter Hofer auf Anfrage aus. Selbstverständlich halte man sich an alle gesetzlichen Vorgaben und hoffe, dass die Krise bald vorbei sei.

"Was ist die Alternative?"

Michael Böheim, Wettbewerbsexperte des Wifo, sieht im Verhalten der Lebensmittelketten keinen Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung. "Was ist die Alternative? Das alle bei Amazon einkaufen? Damit ist für Österreichs nichts gewonnen." Der Konflikt mit anderen Händlern gehöre über Kompensationszahlungen der Regierung gelöst. Der Staat müsse ihnen ihren Umsatzentgang fair abfedern, alle Betroffenen gehörten entschädigt.

Er verstehe den Groll vieler Unternehmer, es gehe um Existenzen, sagt Böheim. Aber würden die von der Regierung getroffenen Maßnahmen nun mit Ausnahmen durchlöchert, sei bald Schluss mit Zusperren. "Wo soll man die Grenze ziehen? Irgendwann kommen auch die Juweliere und wollen offenhalten."

Freiwillige Selbstverpflichtung

Die Wirtschaftskammer erinnert an eine freiwilligen Selbstverpflichtung, der Lebensmittelhändler zugestimmt hätten. Produkte, die über den Grundbedarf hinausgehen, sollten nicht aggressiv beworben werden, man appelliere hier an das Verantwortungsbewusstsein der Unternehmen.

Fliegt Non-Food aus den Regalen, erhöht das die Lagerkosten, sagen Diskonter. Kleine Händler sehen darin kein haltbares Argument, schließlich werde im Lebensmittelhandel Ware täglich disponiert.

Die Gesundheit und Versorgungssicherheit der Bevölkerung stehe über allem, heißt es aus dem Handelsverband. Man habe früh Anfragen aller Firmen an den Regulator weitergeben und die Rückmeldungen transparent gemacht. Zuständiger Entscheider sei federführend das Gesundheitsministerium. Der Verband sei jedenfalls mit der Regierung in Kontakt. Ziel sei es, den Geschäften unter Wahrung aller Sicherheitsvorkehrungen zu ermöglichen, rasch wieder aufzusperren, sobald die Gefahr des Virus für die Gesundheit der Bevölkerung gebannt sei.

Unsichere Rechtslage

Gärtner Starkl hofft jedenfalls, dass seine Branche den bisher erlittenen Schaden durch ein Sonderpaket ersetzt bekommt – und dass bei Frischeprodukten wie Pflanzen nach Ostern Ausnahmeregelungen gelten. Derzeit dürfen nur landwirtschaftliche Betriebe Ab Hof verkaufen. In Tulln will davon etwa die Gärtnerei Praskac Gebrauch machen.

Starkl, der mit seinem Pflanzenbau ebenfalls zur Landwirtschaft ressortiert, ist die Rechtslage dafür zu unsicher, er wolle auch nicht zur Ausbreitung von Corona beitragen, sagt er. Mitte April aber müsse auch er wieder Geschäfte mit dem Frühling machen. Und bis dahin solle sich der Lebensmittelhandel, der finanziell ohnehin stark von der geschlossenen Gastronomie profitiere, auf seine Kernaufgabe, die Grundversorgung, konzentrieren. "Ich will niemanden diffamieren. Aber hier geht es um Fairness." (Verena Kainrath, 30.3.2020)