Unsere technologischen Abhängigkeiten zeigen sich heute in der Corona-Krise schonungsloser denn je. Welche, wenn nicht amerikanische Plattformen wie Amazon, Netflix, Zoom oder Google Drive nutzen wir in Zeiten des verordneten Homeoffice und der Ausgangbeschränkungen? Wir Europäer geraten dabei weiter in Abhängigkeiten. Doch gerade Zeiten, in denen man sich schwach und verwundbar fühlt, können eine Chance bieten, aus alten Mustern auszubrechen und sich wieder große Ziele zu setzen.

Nehmen wir als Inspiration die Geschichte von Airbus und eine Zeit, in der Europa ohne eigenen Flugzeughersteller ins technologische Hintertreffen zu geraten drohte. Das Projekt galt in den 1960er-Jahren, mitten im Kalten Krieg, in der Öffentlichkeit als unwirtschaftlich, und man gab einem paneuropäischen Technologievorhaben dieser Größe nur geringe Erfolgsaussichten. Die Proponenten, darunter der deutsche CSU-Politiker Franz Josef Strauß, agierten in dieser Hinsicht als Visionäre: Sie hatten erkannt, wie wichtig es für Europas wirtschaftliche Entwicklung sein würde, in der Luftfahrtindustrie gegen Amerika bestehen zu können. Das war nur über die Gründung eines globalen Leitbetriebs möglich. Airbus ist heute ein erfolgreiches, weltweit agierendes Industrieunternehmen und baut sicherere Flugzeuge als sein US-Konkurrent Boeing.

Vorbild Airbus

Warum erwähne ich die Entstehung von Airbus heute in dieser Krise? Weil Europa, vor allem wenn es schwach ist, wieder lernen muss, groß zu denken.

Auch nach Corona werden digitale Plattformen aus den USA ihre Marktdominanz weiter ausbauen, was nicht nur wettbewerbsverzerrend ist, sondern mittlerweile sogar auch, wie im Fall von Facebook, unsere Demokratie gefährdet. Uber wird Fahrdienstleister weiter ins Prekariat treiben, Airbnb das ohnehin knappe Angebot an städtischem Wohnraum weiterhin verknappen und Amazon einem noch geschwächteren Einzelhandel weiter das Wasser abgraben. Steuern zahlen die Konzerne außerdem so gut wie keine.

Warum kein europäisches Streamingservice aufbauen?
Foto: EPA / Susanne Hassler-Smith

Digitale Riesen

Wir brauchen den Mut, den digitalen Riesen mit eigenen attraktiven europäischen Netzwerken und Plattformen auf Augenhöhe zu begegnen. Wenn es in den 1960er-Jahren galt, sich in Europa zusammenzutun, um zuverlässige Flugzeuge zu bauen, geht es heute darum, vertrauenswürdige digitale Angebote zu entwickeln. Eine europäische Cloud-Initiative kann erst der Anfang einer mutigeren Technologiepolitik auf unserem Kontinent sein. Wie wäre es zum Beispiel mit der Gründung einer großen europäischen digitalen Universität, die allen Bürgerinnen und Bürgern lebenslanges Lernen ermöglicht? Warum bauen wir nicht ein europäisches Streamingservice, in dem das Beste der europäischen Filme, Fernseh- und Kulturproduktionen einem paneuropäischen Publikum zugänglich gemacht wird? Wieso entwickeln wir nicht eine Plattform, die öffentlichen Verkehr in ganz Europa vernetzt und Nutzer für CO2-schonendes Reisen belohnt?

Alles unmöglich, unrealistisch und unfinanzierbar? Warum nicht gerade jetzt, in einer Zeit der Krise, das scheinbar Unmögliche wagen und wieder groß denken und handeln? (Philippe Narval, 30.3.2020)