Die unendliche Geschichte des Brexits könnte wegen des Coronavirus mit einem weiteren Kapitel verlängert werden. Dass das Durchziehen des Austritts Großbritanniens aus der EU eine Idee mit unerwarteten und zum Teil unkalkulierbaren Folgen ist, hat sich in der Vergangenheit schon zur Genüge gezeigt. Am 31. Jänner ist das Vereinigte Königreich bekanntlich formell aus der Europäischen Union ausgetreten. Doch der Fahrplan für die Übergangsperiode, die bis Jahresende geplant ist, droht nun aus dem Takt zu geraten.

Begonnen hatte es bei Michel Barnier. Der Chefverhandler der EU gab am 19. März bekannt, positiv auf das Coronavirus getestet worden zu sein. Sein britisches Gegenüber David Frost begab sich kurz danach in Selbstisolation, nachdem er leichte Covid-19-Symptome gezeigt hatte.

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Ein Bild aus der Prä-Corona-Ära: David Frost und Michel Barnier am 2. März beim Start der Verhandlungen über ein Handelsabkommen zwischen Großbritannien und der EU.
Foto: Reuters/Hoslet

Das Coronavirus hat in den darauffolgenden Tagen die britische Politszene gründlich durchseucht: Am vergangenen Freitag ist Premier Boris Johnson positiv getestet worden und regiert das Land nun aus der Isolation. Gesundheitsminister Matt Hancock hat es ebenso erwischt wie den medizinischen Chefberater der Regierung, Chris Whitty, und Gesundheitsstaatssekretärin Nadine Dorries. Keine andere Regierung der Welt ist damit näher mit der Bekämpfung der Seuche befasst als die britische.

Am Montag folgte nun auch Johnsons Mastermind Dominic Cummings, der sich wegen Corona-Symptomen in Isolation begab.

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Krank: Boris Johnsons Berater Dominic Cummings.
Foto: Reuters/McKay

Die britische Presse hat den Verantwortlichen für das Desaster schon ausgemacht: Dabei handelt es sich nicht um den Premier mit seinem laxen Umgang mit der Seuche, nein, schuld ist die EU. Die "Mail on Sunday spekulierte jedenfalls am Wochenende, Johnson habe sich bei Frost angesteckt, der wiederum von Barnier infiziert worden sei. "Kann das die ultimative Rache für den Brexit sein?", fragte das Blatt.

Diesen abstrusen Vorwurf kommentierte der Vertreter der EU-Kommission in Wien süffisant: "Die EU ist an allem Schlechten schuld", schrieb Martin Selmayr auf Twitter.

Der Premier war jedenfalls in den Tagen vor seinem positiven Test nicht weniger umtriebig als sonst. Noch Anfang März hatte er die Ansteckungsgefahr durch das Virus verharmlost und öffentlich darüber gesprochen, dass er auch Corona-Patienten die Hand geschüttelt habe. Auch den ebenfalls erkrankten Thronfolger Prince Charles traf der Premier kürzlich.

Guardian News

Die Corona-Epidemie legt Großbritannien nun ausgerechnet in einer entscheidenden Phase lahm. Der Brexit ist zwar vollzogen, doch seit Ende Jänner hat sich für die Bürger des Vereinigten Königreichs wenig geändert. Dafür sorgt die vereinbarte Übergangsphase bis Jahresende, wenn Großbritannien aus dem Binnenmarkt und der Zollunion ausscheidet. Doch ohne eine ordentliche Regelung der wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen Großbritannien und der EU droht mit Ende 2020 der schon in den vergangenen Jahren vielfach heraufbeschworene harte Bruch. Dieser würde die ohnehin schon von der Corona-Krise schwer getroffene Wirtschaft noch weiter in den Abgrund stoßen.

Michel Barnier gab am 19. März seine Erkrankung bekannt.
Boris Johnson folgte rund eine Woche später.
BBC

In einer Petition auf der Webseite des Parlaments wird nun eine Verschiebung der Verhandlungen auf die Zeit nach der Corona-Epidemie gefordert. Die Übergangszeit solle um zwei Jahre verlängert werden, damit sich die Regierung auf die Bekämpfung der Seuche konzentrieren kann.

In den elf Monaten zwischen dem Austritt Großbritanniens und dem Ende der Übergangsperiode sollte ein Freihandelsabkommen ähnlich jenem mit Kanada ausgehandelt werden. Zu den zu regelnden Themenbereichen gehören darüber hinaus neben der Fischerei auch Fragen der Sicherheitszusammenarbeit, der Luftraumüberwachung, der Atomenergie und der inneririschen Grenze.

Gespräche über irische Grenze

Zumindest über die irische Frage sprachen am Montag Kommissionsvizepräsident Maroš Šefčovič und Kabinettsminister Michael Gove in einer Videokonferenz. Im Irland-Nordirland-Protokoll ist festgeschrieben, dass die Briten alle Warenimporte von außerhalb der EU – und damit auch aus Großbritannien selbst – nach Nordirland einer Kontrolle unterziehen müssen. Dies soll verhindern, dass die Überprüfungen erst an der Grenze zwischen Nordirland und der Irischen Republik stattfinden müssen, was den Keim für ein Aufflammen des Irland-Konflikts in sich tragen würden. Die EU-Kommission drängt nun auf einen detaillierten Zeitplan für die Einrichtung dieser Zollkontrollen.

Die erste Verhandlungsrunde Anfang März zeigte trotz einer freundlichen Atmosphäre die grundlegenden Auffassungsunterschiede der beiden Seiten auf. Die zweite Runde sollte am 18. März starten und fiel bereits der Corona-Krise zum Opfer – am Tag danach meldete Barnier seine Erkrankung.

Der ambitionierte Zeitplan ist damit de facto hinfällig. Schon unter optimalen Bedingungen wären für die Gespräche nur rund sechs Monate eingeplant gewesen, um noch eine rechtzeitige Ratifizierung durch das Parlament zu ermöglichen. Wäre der Brexit wie ursprünglich geplant schon am 29. März 2019 durchgezogen worden, hätten Brüssel und London dagegen insgesamt 21 Monate für die Abwicklung zur Verfügung gehabt – ein weitaus realistischerer Zeitrahmen.

Deadline 30. Juni

Eine Verlängerung der Übergangsphase können beide Seiten der Verhandlungspartner beantragen, dies ist einmalig für ein oder zwei Jahre möglich. Über die Verlängerung entscheidet dann der gemeinsame Ausschuss aus Vertretern Brüssels und Londons. Dies muss jedoch spätestens am 30. Juni fixiert werden.

Boris Johnson regiert nun aus der Isolation.
Foto: APA/AFP

Für Johnson ist eine Verlängerung jedoch bisher nicht infrage gekommen, denn in diesem Falle müsste Großbritannien seinen Beitrag zum EU-Budget leisten und wäre weiterhin den EU-Regulativen unterworfen. In den Gesetzen zum Austritt ließ der Premier gar festschreiben, dass die britische Regierung keine Verlängerung der Übergangsphase beantragen dürfe.

Doch in Umfragen ist mittlerweile eine Mehrheit der Briten für eine Verlängerung der Übergangsphase: Eine Yougov-Erhebung weist 55 Prozent Befürworter und nur 24 Prozent Gegner der Verschiebung aus. Und auch aus Europa kommt Druck: Am Montag forderte die Europäische Volkspartei die Briten auf, den Verhandlungen mehr Zeit einzuräumen. (Michael Vosatka, 31.3.2020)