Andreas Reiter hat 1996 das ZTB Zukunftsbüro in Wien gegründet. Der aus Tirol stammende Zukunftsforscher sieht eine Zeitenwende: Nach überstandener Coronakrise wird die Welt eine andere sein, sagt er.

Foto: ho

Die rasante Ausbreitung des Coronavirus beeinflusst unser tägliches Leben, vom Arbeiten im Homeoffice bis zum Einkauf (mit Schutzmaske) im Supermarkt. Die Bewegungsfreiheit dürfte wohl noch für eine Weile massiv eingeschränkt bleiben. Einiges wird bleiben, so manches wieder verschwinden. Die Welt nach Corona werde jedenfalls eine andere sein, sagt der Zukunftsforscher Andreas Reiter, den DER STANDARD telefonisch in seinem Wiener Büro erreichte.

STANDARD: Kann man schon etwas aus der Corona-Krise ableiten?

Reiter: Für ein umfassendes Bild ist es zu früh. Noch müssen wir die Krise managen und zusehen, möglichst unbeschadet durchzukommen. Würde man nachher aber wieder so weitermachen wie bisher, wäre alles vergeblich gewesen. Wir hätten nichts gelernt und würden von der nächsten Krise überrumpelt.

STANDARD: Auf was also achten?

Reiter: Auf die soziale Komponente, das Digitale und den Klimaschutz, denn ohne Reduktion der CO2-Konzentration in der Atmosphäre wird der Planet unbewohnbar.

STANDARD: Was beinhaltet das Soziale?

Reiter: Die Menschen spüren, dass etwas anders werden muss. Die Solidarität, die sich seit dem Ausbruch von Corona rund um das verordnete Social Distancing entwickelt hat, kann ein Fundament sein, das uns in der Nach-Corona-Zeit weit tragen kann. Social Distancing ist eigentlich ein völlig falscher Begriff. Wir haben es mit Physical Distancing zu tun, gekoppelt mit ungemein viel sozialer Nähe.

Bild nicht mehr verfügbar.

Ob in Hamburg, München oder Wien, im Supermarkt, in der Apotheke oder in freier Natur: Distanz voneinander wird in Zeiten von Corona großgeschrieben.
Foto: dpa/wendt

STANDARD: Worin merken Sie das?

Reiter: Plötzlich werden Alltagslösungen für Otto Normalverbraucher entwickelt und frei zugänglich ins Netz gestellt. Eine Turnlehrerin bietet kostenlos Unterricht für Kinder mit Behinderung über Videostreaming an. Nachbarschaftshilfen sind aufgepoppt, es gibt insgesamt eine große digitale Empathie. Zugleich ruft diese physische Distanziertheit, in der wir augenblicklich leben müssen, eine hohe soziale Empathie hervor.

STANDARD: Und das Ganze gekoppelt mit Digitalisierung?

Reiter: Ja, in allen Bereichen. Plötzlich arbeiten so viele Menschen vom Homeoffice aus, wie wir das vor kurzem noch nicht für möglich gehalten hätten. Und das, wohlgemerkt, obwohl manche Tools oft mehr schlecht als recht funktionieren. Aber gerade auf technischer Seite wird es rasch Verbesserungen geben.

STANDARD: Wird Homeoffice in seiner Bedeutung nicht überschätzt?

Reiter: Arbeiten von zu Hause hat klarerweise auch eine soziale Komponente. Wenn die Wohnung groß genug ist, mag es für den einen oder anderen sogar Spaß machen, zu Hause zu arbeiten, statt ins Büro zu müssen. Für jemanden, der in engen Verhältnissen lebt, stellt sich die Situation wohl anders dar. Das Büro hebt in gewissem Sinne die Ungleichheit auf. Dieser soziale Gap wird oft negiert, darüber wird nach der Krise aber sicher zu sprechen sein.

STANDARD: Ist das Leben nach der Krise planbar, oder wird sich das automatisch ergeben?

Reiter: Ich plädiere dafür, in Szenarien zu denken, weil diese Unwägbarkeiten in einer derart großen Volatilität und Stärke da sind wie wohl noch nie zuvor. Die Finanzkrise vor zehn Jahren war "nur" eine Finanzkrise, und die war schwierig genug. Die augenblickliche Krise ist so komplex, der Fortgang hängt davon ab, wie sich die einzelnen Variablen, von denen es so viele gibt, verändern. Gibt es ein Medikament im Herbst, eine Impfung im nächsten Frühjahr oder doch erst im nächsten Sommer? Fragen über Fragen.

Schöne neue Arbeitswelt: Weil das Coronavirus die Infektionsgefahr im Großraumbüro unverhältnismäßig in die Höhe treiben würde, arbeiten viele mehr oder weniger freiwillig im Homeoffice.
Foto: afp

STANDARD: Angenommen, es gibt einen Impfstoff nächstes Jahr. Warum sollte die Welt nicht in den alten Trott zurückfallen?

Reiter: Weil sich zwischenzeitlich so viele Verhaltensweisen eingeschliffen haben, die sich schwer wieder ablegen lassen. Wenn sich beispielsweise zeigt, dass dezentrales Arbeiten unterm Strich gut funktioniert, werden viele Unternehmen ihren Bedarf beispielsweise an Büroflächen reduzieren, um so Kosten zu sparen. Bestimmte Dinge verselbstständigen sich im Positiven, aber auch im Negativen, wenn man nicht aufpasst – Stichwort Überwachungsapp. Jetzt sagen viele, das ist sinnvoll, um Nichtinfizierte vor Corona-Infizierten zu warnen. Einmal eingeführt, lässt sich so etwas aber nur sehr schwer wieder rückgängig machen.

STANDARD: Also generell Vorsicht bei Innovationen?

Reiter: Was wir dringend brauchen, sind soziale Innovationen.

STANDARD: Was verstehen Sie darunter?

Reiter: Zum Beispiel ein bedingungsloses Grundeinkommen, das ist ein Gebot der Stunde. Statt ein Hilfspaket nach dem anderen zu schnüren, wäre es zielführender, jeder und jedem ein monatliches Fixum zukommen zu lassen. Das wäre eine gute Möglichkeit, den Zusammenhalt in der Gesellschaft zu stärken und alle Menschen würdevoll durch diese extrem schwierige Zeit zu bringen.

STANDARD: Beinahe die gesamte Wirtschaft leidet unter Corona ...

Reiter: Einzelne Branchen mehr als andere, da gibt es zum Teil tektonische Verschiebungen. Airbnb beispielsweise ist völlig weg vom Fenster.

STANDARD: Die haben in der jetzigen Situation aber den Vorteil, dass ihnen kein einziges Zimmer gehört.

Reiter: Aber angenommen, es gibt einen institutionellen Investor in Berlin oder Wien, der seine zwanzig Häuser bisher über Airbnb vermietet hat. Der könnte aufgrund der jetzigen Erfahrung hergehen und sagen, ich mache Mietwohnungen daraus, das ist langfristig doch sicherer. Diese Krise wird einiges verändern.

STANDARD: Was könnte sich sonst noch ändern, getriggert durch die Krise?

Reiter: Dass wieder mehr lokal statt global produziert wird. Vielen ist plötzlich bewusst geworden, wie abhängig wir inzwischen von internationalen Lieferketten sind. Ein hoher Prozentsatz der Medikamente wird in China oder Indien hergestellt, die fehlen uns jetzt. Die Autoindustrie kann nicht produzieren, weil wichtige Komponenten irgendwo hängen. Es wird wieder vermehrt Insourcing geben, davon bin ich überzeugt.

Bild nicht mehr verfügbar.

Viele Präparate werden aufgrund der internationalen Arbeitsteilung in Asien hergestellt. Langsam beginnt ein Umdenken.
Foto: reuters

STANDARD: Das Outsourcing war und ist überwiegend von den Kosten getrieben, das ändert sich ja nicht.

Reiter: Die Digitalisierung kann und wird aber helfen, den Kostenunterschied zwischen Europa und beispielsweise Asien aufzuwiegen. Durch Robotik und Automatisation werden Firmen in die Lage versetzt, auch in Europa günstig zu produzieren. Die entscheidende Frage ist nur, was mit den Menschen passiert, wenn der Automatisierungsgrad dramatisch steigt und die Fabriken deutlich weniger Arbeitskräfte benötigen als bisher. Da wird man eine gesellschaftliche Lösung finden müssen. Eine Möglichkeit ist, und ich wiederhole mich, die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens.

STANDARD: Künstliche Intelligenz?

Reiter: Was das betrifft, liegt Europa jetzt schon zurück und kann den Abstand zu Amerika und Asien wohl nicht mehr aufholen. Wir können aber bei smarten Technologien punkten, mit Produktionsclustern im ländlichen Raum, kurzen Entscheidungs- und Lieferwegen. Das macht uns insgesamt widerstandsfähiger. Zudem wäre dies eine Riesenchance für Europa, um sich im Parallelogramm der Mächte auch in der Nach-Corona-Zeit gut zu behaupten.

(Günther Strobl, 2.4.2020)