Die Regierung des Kosovo wurde mitten in der Coronakrise durch ein Misstrauensvotum gestürzt. Die links-nationalistische Regierung um Albin Kurti war Anfang Februar mit großen Erwartungen und vielen Reformversprechen gestartet. Kurtis Partei Vetëvendosje (Selbstbestimmung) scheiterte daran, dass sie die bestehende Koalition nicht aufrechterhalten konnte, mit den USA einen mächtigen Vetoplayer hatte und zudem keine breitere Koalition links der Mitte schmieden konnte.

Im Gegensatz zur Berichterstattung einiger internationaler Medien führte die Coronakrise nicht zur finalen Absetzung der Regierung, war jedoch Auslöser eines Machtkampfs zwischen der regierenden Vetëvendosje und Präsident Thaçi, der wegen der Pandemie den Ausnahmezustand ausrufen wollte, durch den die Macht des Premierministers zugunsten des Präsidenten erheblich eingeschränkt worden wäre. Mit offiziell etwas über 100 Infizierten und einem Todesopfer wurde das Land bisher noch nicht hart von der Krise getroffen (Stand 31. März 2020), auch dank der schnellen Präventivmaßnahmen der Regierung. Diese erhöhte zudem die Sozialhilfezahlungen, kürzte die Gehälter von SpitzenvertreterInnen der Regierung und sagte korrupten Aufsichtsräten von Unternehmen mit staatlicher Beteiligung den Kampf an. Die Maßnahmen zur Bekämpfung von Korruption waren für viele die ersten erhofften Anzeichen eines politischen Wandels durch eine neue Generation von PolitikerInnen ohne direkte Vergangenheit in der UÇK (Befreiungsarmee des Kosovo).

Der Misstrauensantrag am 25. März fand im Parlament die Zustimmung von über zwei Drittel der 120 Stimmen. Nur Vetëvendosje (VV, 29 Sitze) und drei ParlamentarierInnen des bisherigen Koalitionspartners LDK (Demokratische Liga des Kosovo, 28 Sitze) stimmten dagegen. Die LDK war es auch, die den Antrag eingebracht hatte und damit ihre Unterstützung für die Initiative des Präsidenten Hashim Thaçi, den Ausnahmezustand auszurufen, ausdrückte. Zudem begründete die LDK den Antrag auch mit den sich in letzter Zeit verschlechternden Beziehungen zu den USA.

Der Aufstieg und (vorläufige) Fall von Vetëvendosje

Die politische Landschaft des Kosovo ist aufgrund der jungen Geschichte des Landes stark fragmentiert: mehrere Parteien kämpfen um 100 Sitze des Parlaments, welche die albanische Mehrheit des Landes repräsentieren, die übrigen 20 Sitze sind für Minderheiten reserviert. Seit der Unabhängigkeit 2008 bestanden alle bisherigen Regierungen aus mindestens vier Parteien, da laut Verfassung auch mindestens eine Vertretung der serbischen, sowie einer nicht-serbischen Minderheit im Kabinett vertreten sein muss. Alle Regierungen seit der Unabhängigkeit endeten aber verfrüht mit vorgezogenen Neuwahlen.

Albin Kurti von der Vetëvendosje-Partei
Foto: APA/AFP/STRINGER

Die als populistische Partei angesehene Vetëvendosje (siehe Yabanci, 2016) wurde 2005 als soziale Bewegung von Albin Kurti, einem ehemaligen studentischen Aktivisten und politischen Gefangenen während des Kosovokrieges, gegründet. Die Partei steht gemäß ihrem Namen für Selbstbestimmung und die Vereinigung mit Albanien.

Kosovo, nach wie vor das ärmste Land der Region, konnte seit der Unabhängigkeit 2008 viele volkswirtschaftliche Indikatoren wie die Beschäftigungsquote, das BIP pro Kopf, Armutsbekämpfung, Pensionsniveau oder Infrastruktur - auch dank westlicher (teils kontroverser) Investitionen - verbessern.[1] Früher machte Vetëvendosje durch die Ablehnung der kosovarischen Institutionen auf sich aufmerksam, etwa indem sie sich über Flagge und Hymne lustig machte, was allerdings auf wenig Anklang in der Bevölkerung stieß. Zudem organisierte die Partei massive Proteste gegen den Ahtisaari Plan von 2007 zum Status des Landes, wie auch gegen die Verhandlungen mit Serbien, die seit 2011 von der EU moderiert werden. Da sie zu diesen jedoch nie eine echte Alternative präsentieren konnte, entfernte sich Vetëvendosje in den letzten Jahren von ihrer ablehnenden Position und sprach sich ebenfalls für Gespräche mit Serbien aus, die zu einem bilateralen Abkommen und langfristig zur EU-Mitgliedschaft führen sollen.

Vetëvendosje konnte aufgrund der begeisternden Rhetorik der Parteiführung um Albin Kurti den Einfluss der Partei deutlich erweitern. Ihre in den letzten Jahren wachsende Beliebtheit verdankt sie einem Anti-Korruptionsdiskurs, den sie mit linken Politikversprechen und nationalistischen Aussagen verknüpft. Die anderen "albanischen" Parteien, vor allem die aus der UÇK entsprungenen PDK (Demokratische Partei des Kosovo), deren Abspaltung NISMA und die AKK (Allianz für die Zukunft des Kosovo) wurden zunehmend für ihre Korruption und die Vereinnahmung des Staates ("state capture") kritisiert.

Zugleich fiel Vetëvendosje aber auch immer wieder durch eine strikte Zentralisierung der Partei und die geringe Kritikfähigkeit der Parteiführung auf.[2] Verschiedene PolitikerInnen verließen die Partei in den letzten Jahren und kritisierten dabei den auf umfassende Kontrolle bedachten, autoritären Führungsstil der Parteispitze. Im Zentrum der Kritik stand zudem, dass es der Partei an politischer Erfahrung in Spitzenämtern fehlen würde und sie es bisher nicht geschafft hatte, einen umfangreichen sozio-ökonomischen Reformplan im Parlament einzubringen. Nachteilig wirkte sich auch Vetëvendosjes Unfähigkeit aus, auf lokaler Ebene Koalitionen zu schmieden oder längere Zeit zu erhalten.

Aufgrund dieser mangelnden Kompromissbereitschaft von Vetëvendosje gelang es vor der Wahl im Oktober 2019 nicht, ein breiteres linkes Bündnis zu formen, weshalb kleine linke Parteien, wie die LB oder PSD, lieber ein Wahlbündnis mit rechts-konservativen Parteien eingingen. Trotz dieser Umstände gelang es Vetëvendosje 2019 – rund zehn Jahre nach dem Einzug ins Parlament – zum ersten Mal, die Parlamentswahlen knapp zu gewinnen. Ein Wahlversprechen dabei war, keine Koalition mit einer Nachfolgepartei der UÇK zu formen.

Quelle: Zentrales Wahlkommitee des Kosovo [3]
Mustafa/Spöri, Zentrales Wahlkommitee des Kosovo

Die Einmischung der USA in die Innenpolitik und wachsende Differenzen innerhalb der westlichen Koalition im Kosovo

Aufgrund ihrer Wahlversprechen und den entsprechenden Erwartungen innerhalb der Bevölkerung startete die Regierung Versuche, die Korruption zu reduzieren, die öffentliche Verwaltung zu verbessern und die jüngeren Generationen mehr in Politik – auch politische Ämter – einzubinden. Diese Vorhaben führten zum Widerstand der anderen Parteien, wie sich schon bei der schwierigen Koalitionsbildung mit der konservativen LDK, deren politisches Profil vergleichbar mit der ÖVP oder der deutschen CDU ist, zeigte. Es war abzusehen, dass Vetëvendosje Schwierigkeiten haben würde, ihre Vorhaben im von rechts-konservativen Parteien dominierten Parlament durchzusetzen.

Auch aufgrund der früheren Positionen der Partei wurde die Regierung Kurtis international besonders beobachtet, vor allem vom traditionell engen Partner des Landes, den USA. So weigerte sich das Weiße Haus Kurti oder andere VertreterInnen von VV bei der Münchner Sicherheitskonferenz zu treffen, der US-Entwicklungshilfefond "Millennium Challenge Corporation" (MCC) fror die Auszahlung von 40 Millionen Dollar ein und mehrere republikanische Kongressabgeordnete sprachen sich für den Abzug US-amerikanischer Truppen aus dem Kosovo aus.

Während der Sitzung zum Misstrauensantrag ließ Kurti verlauten, dass es einen geheimen Deal zwischen den Präsidenten Serbiens und des Kosovo, Thaçi und Vučić, geben würde, der vorsieht, Gebiete zwischen den Ländern zu tauschen. Eine Idee, die in den letzten Jahren immer wieder diskutiert wurde. Kurti erteilte diesen Plänen erneut eine Absage, egal ob solche Deals "im Weißen, Grünen oder Roten Haus" unterzeichnet würden. Der Sondergesandte für die Friedensverhandlungen zwischen Serbien und dem Kosovo von Donald Trump, Richard Grenell (zugleich US-Botschafter in Deutschland), verneinte derartige Pläne umgehend. In der Nacht vor der Abstimmung über den Misstrauensantrag sprachen sich die Außenminister Deutschlands und Frankreichs der Linie der EU entsprechend dafür aus, die Regierungskoalition aufrechtzuerhalten. Die Spaltung der westlichen PartnerInnen des Kosovo, den USA und der EU, die die letzten 20 Jahre gemeinsam für Reformen eingetreten sind, schreitet somit weiter voran. Viele im Kosovo befürchten nun, dass sich die generellen Spannungen zwischen der EU und den USA zunehmend auf den Kosovo auswirken.

Ausblick: Neuwahlen oder neue Koalition im Parlament?

Albin Kurti wird sich seine eigenen Chancen in diesem sich anbahnenden Machtkampf vorab ausgerechnet haben. Dafür spricht, dass Kurti eine engere Zusammenarbeit mit Grenell ablehnte und zudem kurzerhand den mächtigen Innenminister der LDK entließ, nachdem dieser sich positiv zu den Plänen von Präsident Thaçi bezüglich des Ausnahmezustands geäußert hatte.

Mit der bevorstehenden US-Wahl Ende 2020 bleibt Trumps Gesandter Grenell nicht mehr viel Zeit, außenpolitischen Erfolge am Westbalkan für die USA zu erreichen. Kurti kann sich der Unterstützung großer Teile der Bevölkerung sicher sein, die in Zeiten der Ausgangssperre während der Abstimmung im Parlament auf ihren Balkonen und aus den Fenstern mit Töpfen lärmend gegen die Absetzung protestierten. Kurti fordert nun Neuwahlen, wohlwissend, dass diese während der Pandemie nicht stattfinden können und somit ein Abkommen mit Serbien vor der US-Wahl praktisch unmöglich erscheint.

Es wäre aber auch möglich, dass sich Kurti verkalkuliert hat. Einerseits hat er einige Wählergruppen enttäuscht, welche sehr auf das traditionell gute Verhältnis mit den USA setzen. Andererseits wäre es auch möglich, dass eine neue Koalition ohne Vetëvendosje im Parlament gebildet wird.

Der Eifer der Trump-Administration, wenn auch innenpolitisch motiviert, böte zudem die Gelegenheit mehr Bewegung in die zähen Verhandlungen mit Serbien zu bringen. Auch manche europäische Regierung, wie etwa die österreichische, haben bereits Unterstützung für ein Abkommen zwischen Serbien und Kosovo signalisiert, auch wenn dieses einen Gebietsaustausch vorsehen würde. Daran zeigt sich, unabhängig davon wie der Machtkampf zwischen Kurti, Thaçi und der LDK ausgeht, dass die Entwicklung des Landes auch in Zukunft maßgeblich von internationalen Machtdynamiken beeinflusst wird. (Artan Mustafa,Tobias Spöri, 3.4.2020)

Dr. Artan Mustafa und Dr. Tobias Spöri sind Mitglieder der Forschungsgruppe Osteuropastudien am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien.

[1] Somit konnten die Errungenschaften zu Zeiten der Sozialistischen Autonomen Provinz Kosovo (1974-1989) übertroffen werden, eine Epoche, die für viele als entscheidend für die Entstehung der kosovarischen Nation (nation building) angesehen wird (siehe Mustafa, 2020).

[2] So verließ der Wahlbündnispartner LB (Bewegung zur Vereinigung) nach der Wahl 2010 die parlamentarische Gruppe von Vetëvendosje; 2018 verließen zwölf ParlamentarierInnen die Partei und wechselten zur sozialdemokratischen PSD.

[3] Kosovo Assembly Elections 

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