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Schwedens oberster Epidemiologe Anders Tegnell ist derzeit ein gefragter Mann.

Foto: TT News Agency/Claudio Bresciani via REUTERS

1. April 2020: Ganz Europa ist coronabedingt in einen verspäteten Winterschlaf versunken. Einzig in einem gallischen Dorf im hohen Norden gehen die Uhren – noch – anders. Während ringsum Cafés, Restaurants und die meisten Geschäfte seit Wochen schon geschlossen sind, so auch in Dänemark und Norwegen, geht die schwedische Regierung des Sozialdemokraten Stefan Löfven demonstrativ einen anderen Weg. Entworfen hat ihn Anders Tegnell, seines Zeichens oberster Epidemiologe des Königreichs, dessen Bild dieser Tage in Dauerrotation über die Bildschirme flimmert – unumstritten ist er aber keineswegs, steigt die Zahl der Corona-Toten schließlich auch in Schweden rasant. Anstatt auf Verbote setzen der Arzt und der Politiker auf Bürgersinn und Verantwortung.

Tanz aus der Reihe

Wie sehr das sonst so auf Konformität bedachte Land in Zeiten von Corona aus der Reihe tanzt, ist schon aus der Ferne sichtbar: Webcams zeigen die Gastgärten in der schmucken Stockholmer Innenstadt belebt – jedenfalls nach mitteleuropäischen Maßstäben. Die Grenzen des Königreichs sind für EU-Bürger offen; Universitäten sind zu, Schulen jedoch nicht. Ministerpräsident Löfven bat seine Landsleute zwar, Reisen wenn möglich zu verschieben, Menschen über 70 und jene, die sich krank fühlen, sollten zudem doch bitte daheimbleiben. Vor allem aber appelliert er in der Krise, die laut aktuellen Zahlen jetzt schon 180 Schweden das Leben gekostet hat, an den gesunden Hausverstand. "Wir Erwachsene sollten vor allem eines sein: Erwachsene", sagte er im Fernsehen. Man könne nicht alles regulieren und verbieten.

Ob der Sonderweg an ein gutes Ziel führt, ist freilich alles andere als gewiss. Mehr als 4400 Infektionen wurden – Stand Dienstag – verzeichnet, die Hälfte davon in Stockholm. Dutzende Forscher sprachen sich deshalb in einem offenen Brief für eine Ausgangssperre in der bislang so quirligen Hauptstadt aus. Löfven und seinen Druiden Tegnell lassen derlei Appelle weitgehend kalt – bisher jedenfalls. "Wir sind überzeugt davon, dass das hier der richtige Weg ist", wiederholte der Wissenschafter am Freitag.

Regierung lenkt langsam ein

Es gibt Anzeichen, wonach viele Schweden tatsächlich auch ohne Fingerzeig von oben die Gebote der Stunde beherzigen. Die Stockholmer Verkehrsbetriebe etwa verzeichnen einen fünfzigprozentigen Rückgang an Fahrgästen. Trotzdem beginnt die Regierung nun aber langsam an einzelnen Schrauben zu drehen: Ab sofort sind Versammlungen von mehr als 50 Menschen sowie Besuche in Altersheimen untersagt. Ein eilig in einem Messegebiet errichtetes Notlazarett erinnert die Schweden an die auch in ihrem Land heillos unterfinanzierten Intensivstationen in den Spitälern. Vizeregierungschefin Isabella Lovin versprach am Dienstag, künftig mehr Corona-Tests durchführen zu lassen, wie es Kritiker seit Wochen fordern. Bisher wurden in dem Zehn-Millionen-Einwohnerland gerade einmal 36.000 Tests durchgeführt. Die im Vergleich zu Norwegen und Dänemark weit höhere Todesrate deutet nach Ansicht von Experten jedenfalls auch in Schweden auf eine sehr hohe Dunkelziffer hin. (Florian Niederndorfer, 1.4.2020)