Bild nicht mehr verfügbar.

Die Interpretationen der erhobenen Zahlen über den Erreger Sars-CoV-2 und die von ihm ausgelöste Krankheit Covid-19 widersprechen sich allzu häufig.
Foto: AP Photo/Victor R. Caivano

Österreichs Regierung agiert im Kampf gegen das Coronavirus im Blindflug. Sie hat auch keine andere Wahl, denn jede Entscheidung in der momentanen Krise muss auf mangelhafter Datenbasis getroffen werden. Sich das einzugestehen, ist freilich keine Option. Nicht nur die österreichische Führung, sondern Regierungschefs und Gesundheitsminister auf der ganzen Welt stecken derzeit mindestens so viel Energie in die Demonstration von Beherrschtheit und Kontrolle wie in das Handling der Krise selbst.

Vor mehr als drei Monaten wurde die erste Infektion mit dem Virus bekannt, das später den Namen Sars-Cov-2 erhalten sollte, und wir wissen noch immer nicht, wie bedrohlich es wirklich ist. Dabei bedürfte es zur Einschätzung seiner Gefährlichkeit nur dreier leicht fassbarer, dafür umso schwerer messbarer Zahlen:

Wie viele Leute hat das Virus erfasst? Wie viele andere stecken die Infizierten an? Und wie viele von ihnen sterben an den Folgen der ausgelösten Erkrankung?

Dadurch ließen sich Ansteckungs- und Sterblichkeitsraten berechnen, die uns sagen, ob wir es mit einer Jahrhundertkatastrophe zu tun haben oder mit einem Erreger, nach dem sich die Menschheit wie jedes Jahr nach der Influenza mit ihren mehreren hunderttausend Toten abklopft, um weiterzumachen wie davor. Irgendwo dazwischen, das weiß man mittlerweile, befindet sich das Coronavirus. Wo genau, ist das große Mysterium des noch jungen Jahrzehnts.

Die Verstorbenen

Man sollte meinen, dass sich die Todesfälle noch am ehesten zählen ließen. Doch es könnten deutlich mehr sein, als die Weltgesundheitsorganisation (WHO) offiziell verlautbart. Einige autoritäre Staaten werden verdächtigt, die Opferzahlen durch Vertuschung bewusst niedrig zu halten. China hörte solche Vorwürfe zuerst, später auch der Iran und Russland. In vielen ärmeren Regionen der Welt sind die Obduktionspraktiken zudem so marginal, dass Todesursachen kaum systematisch erfasst werden.

Aber auch in Staaten mit hochentwickelter und transparenter Gesundheitspolitik ist es unklar, wie nah die Zahl der tatsächlichen Covid-19-Opfer an jenem Wert liegt, der uns aus den amtlichen Dashboards entgegenstarrt. Sie könnte durchaus höher sein. Wenn etwa ältere Menschen in den letzten Tagen ihres Lebens einer Lungenentzündung erliegen, wird in der Regel selbst in Spitälern nicht getestet, ob ein spezifisches Virus den letzten Ausschlag gab – und oft ist es auch gar nicht eruierbar.

Der Wiener Stephansplatz bleibt leer.
Foto: EPA/CHRISTIAN BRUNA

In Zeiten von Corona könnte diese Regel aber ausgesetzt und die wahre Zahl auch niedriger sein als die offizielle. Denn Österreich erfasst, wie einige andere Länder, infizierte Personen als "Covid-Tote", "unabhängig davon, ob sie direkt an den Folgen der Viruserkrankung selbst oder ‘mit dem Virus’ (an einer potentiell anderen Todesursache) verstorben sind."

So werden selbst hochbetagte Menschen, die nach Stürzen an "allgemein schlechtem Gesundheitszustand" sterben, als "Covid-Tote" geführt, oder auch Patienten nach multiplem Organversagen im finalen Stadium eines Krebsleidens. Im Verdachtsfall sind die Augen der Öffentlichkeit auf die Durchschlagformulare der Totenbeschauärzte gerichtet – so unterschiedlich sie die Fälle auch registrieren.

Wenige Tote oder viele Tote

Eine abschließende Antwort über die Opfer der Pandemie sollte uns spätestens nach ihrem Ende die sogenannte Übersterblichkeit geben. Sie weist aus, wie viele Personen mehr sterben als zu erwarten war. Die Vereinten Nationen gehen ohne größeres Desaster von 60 Millionen Todesfällen im Jahr 2020 aus. Die Zahl errechnet sich aus der momentanen Weltbevölkerung, ihrer Altersverteilung und der Lebenserwartung in den verschiedenen Staaten der Erde.

Laut einer Studie des Imperial College in London soll das Coronavirus je nach Gegenmaßnahmen (oder ihrem Ausbleiben) heuer zwischen 1,3 und 40 Millionen Menschen dahinraffen. Demnach müssten nicht nur 60 Millionen Menschen sterben, sondern 61,3 bis 100 Millionen.

Den heruntergerechneten 15 Millionen erwartbaren Todesfällen des ersten Quartals stehen offiziell 36.405 Covid-19 zugerechnete Tote gegenüber. Wie viel davon Übersterblichkeit ist, bleibt abzuwarten. Zahlen aus Italien legen nahe, dass sich ihr Anteil in Grenzen halten könnte. Mehr als 99 Prozent der dort Verstorbenen hatten Vorerkrankungen, die Hälfte sogar drei oder mehr. Das Durchschnittsalter der italienischen Covid-Todesfälle beträgt 79,5 Jahre. Es ist eine bittere Wahrheit, bleibt aber eine Wahrheit: Viele italienische Corona-Opfer hatten auch ohne Virus keine hohe Lebenserwartung.

Die Infizierten

Bei all ihren Unwägbarkeiten ist die Zählung der Todesfälle noch ein Leichtes verglichen mit jener der Ansteckungen. Was nicht nur Epidemiologen und Politikern, sondern auch befassten Medienkonsumenten klar ist: Die Zahl der bestätigten Erkrankungsfälle, die in bürokratischer Regelmäßigkeit aktualisiert wird, bildet nur einen kleinen Ausschnitt der tatsächlich Infizierten ab. Was niemandem auch nur annähernd klar ist: In welchem Rahmen bewegt sich die Dunkelziffer?

Das Institut für Höhere Studien ging für Österreich am 17. März, als die offizielle Fallzahl bei 1.300 Personen lag, von 54.500 real Infizierten aus. Simon Sturn, ein Ökonom an der Wirtschaftsuniversität Wien, hielt tags darauf zwischen 16.000 und 45.000 Angesteckte für wahrscheinlich. Wiederum einen Tag später schrieb "Die Presse" von 8.000 Erkrankten. Die Dunkelziffer könnte, wie wir später sehen werden, durchaus noch höher sein.

Viele tausend Tests werden derzeit auf der ganzen Welt durchgeführt.
Foto: EPA/Luis Torres

Schätzungen dieser Art basieren zumeist auf Erfahrungen früherer Fälle. So entsprang ein halbnatürliches Experiment der Situation auf dem Kreuzfahrtschiff Diamond Princess. Es war Ende Jänner in Ostasien unterwegs, als ein Fahrgast das Virus an Bord getragen haben muss. Das Schiff wurde am 3. Februar vor dem Zielhafen Yokohama unter Quarantäne gestellt, und in der Folge fast alle der 3.711 Crewmitglieder und Passagiere auf das Coronavirus getestet. Rund 700 Personen oder ein knappes Fünftel stellten sich als infiziert heraus, wovon mehr als 400 keine erkennbaren Symptome entwickelten. Laut einem Bericht des Japanischen Nationalinstituts für Infektionskrankheiten sollen sich die meisten Menschen angesteckt haben, bevor der erste Fall bekannt wurde und die Quarantänemaßnahmen in Kraft traten.

Eins zu eins lassen sich die Erkenntnisse der Diamond Princess jedoch nicht auf natürliche Bedingungen übertragen, denn das Medianalter der Passagiere war mit etwa 60 Jahren deutlich höher als jenes selbst stark von Überalterung betroffener Länder. Das ist nicht irrelevant, denn ältere Menschen stecken sich etwas seltener mit dem Virus an als jüngere, auch wenn sie häufiger schwere Krankheitsverläufe entwickeln. Das zeigen Daten aus Südkorea, das zu den Staaten mit den höchsten Testzahlen zählt. Während rund elf Prozent aller Südkoreaner 70 Jahre oder älter sind, entfielen auf diese Altersgruppe weniger als neun Prozent der positiv getesteten Covid-19-Fälle.

Jeder zweite positive Fall asymptomatisch

In Island, der Nation mit der höchsten Pro-Kopf-Rate an durchgeführten Corona-Tests, werden ebenfalls nicht nur Verdachtsfälle auf das Virus untersucht, sondern breitere Bevölkerungsschichten. Auch Zahlen von der Nordatlantik-Insel zeigen, dass es nicht vorrangig die Älteren sind, die eine Infektion davontragen; überproportional betroffen sind die 40- bis 49-Jährigen. Eine weitere isländische Erkenntnis, die für eine hohe Dunkelziffer spricht: Jede zweite dort positiv getestete Person zeigte keine Symptome und ahnte nichts von einer Infektion.

Dass sich gar die Hälfte der Bevölkerung mit dem Coronavirus angesteckt haben könnte, hält eine nicht unumstrittene Studie der University of Oxford für denkbar. Das Virus könnte sich schon im Jänner auf jeden zweiten Briten übertragen haben, erklärt Studienautorin Sunetra Gupta, und der schlichte Grund, dass die Spitäler damals nicht übergingen, liege am enormen Anteil milder Verläufe. Nur 0,1 Prozent der Infizierten müssten laut der Epidemiologin in Spitalsbehandlung. Die heimische Regierung geht nach unterschiedlichen Aussagen von drei bis elf Prozent aus – sie dürfte die Quote aber auch näher an der Zahl der erkannten Fälle bemessen als an einer geschätzten Dunkelziffer.

Und die könnte in Österreich angesichts der bisherigen Informationen irgendwo im fünf-, aber auch im sechsstelligen Bereich liegen. Zuletzt gingen täglich etwa 5.000 bis 6.000 Testergebnisse in die Statistik ein. Als Corona-positiv erwiesen sich davon an einigen Tagen fünf, an anderen Tagen zwanzig Prozent. Die Kurve der bestätigten Corona-Fälle erhöhte sich so um mehrere hundert Fälle pro Tag, einen unbekannten Bruchteil der Dunkelziffer.

Und doch hielt Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) regelmäßig Ausdrucke dieser Kurve in die Kameras, um davon abzuleiten, ob die Anti-Corona-Maßnahmen wirken. Dabei ist klar: Eine Senkung der Testzahlen würde auch die Kurve schnell abflachen lassen. Eine Steigerung der Testzahlen hingegen würde die Kurve noch rasanter steigen lassen – und das Argument von wirksamen Maßnahmen in ihr Gegenteil verkehren.

Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) mit der Kurve.
Foto: APA/HELMUT FOHRINGER

Falsche Ergebnisse, keine Repräsentativität

Warum uns die Testungen bisher wenig über die realen Infektionszahlen in Österreich sagen konnten, liegt auch in der mangelnden Repräsentativität für die Gesamtbevölkerung. Zwar ist mittlerweile bekannt, dass viele positive Fälle wegen ihrer milden Verläufe gänzlich unentdeckt bleiben, die Zielgruppe der knappen Menge an Testkits waren aus naheliegenden Gründen aber längstens nicht die Unverdächtigen, sondern Verdachtsfälle mit mittleren bis schweren Verläufen. So wurden erst am Donnerstag die Ergebnisse einer ersten Stichprobenreihe unter 1.161 Angehörigen von Schlüsselberufen bekannt, und 0,52 Prozent stellten sich als positiv heraus.

Doch selbst unter den negativ Getesteten könnten Fälle sein, die die Dunkelziffer anheben. Die zumeist eingesetzten PCR-Tests (Polymerase Chain Reaction) entdecken nämlich einerseits keine Fälle in den ersten, oft asymptomatischen Tagen einer Infektion und andererseits auch nicht jene Personen, die bereits eine unerkannte Ansteckung mit dem Virus hinter sich haben. Nur Antikörpertests wären in der Lage, frühere Ansteckungen zu belegen. Sie sind momentan aber weder im großen Stil verfügbar noch besonders verlässlich; Berichte über falsch-positive oder falsch-negative Tests häufen sich, und die Ärztekammer warnt vor ihrem Einsatz.

Die Konsequenzen

Die stark abweichenden Dunkelziffern münden, wenn man ihnen die Todesfälle gegenübergestellt, zu Sterblichkeitsraten extremer Beliebigkeit. Die WHO hat zur Sterblichkeit keine offizielle Aussage mehr getroffen, seit ihr Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus Anfang März bei einer Pressekonferenz verlas: "Weltweit sind etwa 3,4 Prozent aller Covid-19-Fälle gestorben. Zum Vergleich: Die saisonale Grippe tötet für gewöhnlich weit weniger als ein Prozent der Angesteckten." Für gewöhnlich. Doch auch die Grippe ist nicht immer "nur die Grippe". Der H1N1-Strang hinter der berüchtigten Spanischen Grippe tötete in den ausgehenden 1910er-Jahren nach Schätzungen mehr als fünf Prozent der Angesteckten.

Wenn Sie einen Internetzugang haben, ist es nicht unwahrscheinlich, dass Sie in den vergangenen Tagen in sozialen Medien oder Messenger-Apps auf einen Text namens "Der Hammer und der Tanz" gestoßen sind. Er malt noch schwärzer. Sein Verfasser, Tomas Pueyo, nimmt eine Sterblichkeitsrate von vier Prozent an und zeigt anhand einer schockierenden Grafik, dass in den USA im Extremfall mehr als zehn Millionen Tote zu befürchten sind.

Ähnlich wie Pueyo, dessen Text dutzende Millionen Mal geteilt wurde, erfährt auch Christian Drosten seit Beginn des Covid-19-Ausbruchs eine enorme Öffentlichkeit – zumindest in Deutschland, wo er wie kein anderer zwischen Radioshows und Skype-Interviews herumgereicht wird. Anders als Pueyo, ein Silicon-Valley-Unternehmer, ist Drosten Virologe, er forscht an der Berliner Charité. Drosten geht davon aus, dass am Ende weniger als ein Prozent aller mit dem Coronavirus Infizierten gestorben sein werden. Als Gast eines Podcasts des in Bonn ansässigen Bundesgesundheitsministeriums sagte er: "Das ist so wie ein pandemisches Influenzavirus, das für den einzelnen in mehr als 80 Prozent der Fälle in Erscheinung tritt als eine mehr oder weniger gut wahrnehmbare Erkältungskrankheit".

John Ioannidis, Epidemiologe an der US-amerikanischen Stanford Medical School, geht wie Drosten von einer Sterblichkeitsrate unter einem Prozent aus. Wie weit darunter, hänge freilich wieder von der Dunkelziffer ab, schreibt Ioannidis in einer Analyse, sie könnte sogar nur 0,05 Prozent betragen.

Zwischen Pueyos oberer und Ioannidis’ unterer Annahme besteht ein Unterschied von Faktor 80. Bei gerade grassierenden Seuchen wurden solche Abweichungen bereits beobachtet. Als die Schweinegrippe Mitte 2009 ihre pandemische Phase erreichte, waren Sterblichkeitsraten von mehr als fünf Prozent im Umlauf. Erst Jahre später stufte die WHO sie bei 0,02 Prozent ein. Wir befinden uns jedoch nicht Jahre danach, sondern inmitten einer Pandemie, und da bedeutet eine Ungewissheit von Faktor 80 bei der Sterblichkeit praktisch: Es sterben von einer Million Infizierten entweder 40.000 Personen oder nur 500.

Die Reproduzierten

Je höher die Sterblichkeitsrate, desto relevanter wird auch die Basisreproduktionszahl. Sie wird mit dem Kürzel R0 angegeben und gibt Auskunft darüber, wie viele andere Menschen ein infizierter Wirt im Durchschnitt in einer bestimmten Umgebung ansteckt. In gewisser Weise ist R0 der Tachometer eines Virus und misst, wie schnell es sich ohne systematische Bekämpfung verbreitet. Liegt R0 auf einem Wert von eins, dann steckt jede Person eine andere an und wird in den meisten Fällen selbst wieder gesund, die Durchseuchung schreitet mäßig voran. R0 unter eins bedeutet eine langsamere, R0 über eins eine schnellere Verbreitung.

Die Basisreproduktionszahl der Influenza beträgt je nach Saison zwischen 1 und 2. Die wie Covid-19 von einem Coronavirus ausgelöste Erkrankung Mers kommt auf einen Wert von 0,3 bis 0,8, und bei den sehr viel ansteckenderen Masern handelt es sich zumeist um eine niedrige zweistellige Zahl.

Wenig überraschend schwankt bei Sars-CoV-2 auch diese Kenngröße, sodass die obere Einschätzung ein Mehrfaches der unteren ergibt. In China wurde anhand früher Studien eine Reproduktionszahl um 3 ermittelt. Für das Kreuzfahrtschiff Diamond Princess wird ein Wert von 2,1 bis 2,4 angenommen. Das deutsche Robert-Koch-Institut gibt R0 aktuell zwischen 2,4 und 3,3 an, während eine Studie der Technischen Universität Graz und der Agentur für Gesundheit (Ages) am Beginn des Ausbruchs in Österreich von 1,62 ausging. "Letzteres ist relativ gering", schrieben die Autoren.

R0 wird zu Rt

Unabhängig davon, wie groß die Basisreproduktionszahl des Coronavirus tatsächlich ist: Durch Gegenmaßnahmen wie Ausgangsbeschränkungen und Quarantänen lässt sie sich senken. Der fixe Wert R0 wird dann zur variablen Nettoreproduktionszahl Rt. Rt so weit wie möglich unter eins zu drücken, empfiehlt eine relativ aktuelle Stellungnahme von Universität Wien, MedUni Wien und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.

Unter anderem auf Basis dieser Expertise drängte Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) vergangenen Montag auf Maskenpflicht in Supermärkten und weitere Verschärfungen. Wenn der Wert nicht unter eins sinke, steht fettgedruckt in den Unterlagen, drohen Österreich zehntausende zusätzliche Tote und ein Zusammenbruch des Gesundheitssystems. Den Grund dafür sehen die Wissenschafter in der begrenzten Verfügbarkeit von Intensivbetten und Beatmungsgeräten. Sobald 125.000 Personen gleichzeitig angesteckt sind, seien diese Kapazitäten ausgelastet.

Ein Punkt bleibt in dieser Kalkulation aber offen: Wie die Wissenschafter erklären, entspricht eine Reproduktionszahl unter eins einem Prozentsatz täglicher Neuinfektionen von weniger als sieben Prozent. Diese Schwelle hat Österreich Mitte der Woche bereits unterschritten – doch lässt sie sich wieder nur auf Basis der bestätigten Erkrankungsfälle berechnen. Ob die Dunkelziffer weiter wuchs, eventuell sogar in Richtung der 125.000, ist unklar.

Und genau darauf deutet eine ebenfalls am Montag veröffentlichte Untersuchung des Imperial College hin. Wahrscheinlich seien in Österreich bereits 1,1 Prozent der Bevölkerung oder knapp 100.000 Personen angesteckt, heißt es darin. Das obere Maximum der Schätzung wird gar mit 3,1 Prozent oder rund 275.000 Personen angegeben. Ein völlig neues Ausmaß der Dunkelziffer, das die Infrastruktur an lebenserhaltenden Maßnahmen an den Rand des Kollaps oder darüber hinaus hätte bringen müssen.

Rätsel um Beatmungsgeräte

Glücklicherweise sind wir davon noch ein ganzes Stück weit entfernt. Am Freitag waren 245 der rund 2.500 Intensivbetten von Covid-19-Patienten belegt, die ihnen laut der Uni-Wien-Expertise zur Verfügung stehen. Die Gesundheitsökonomin Maria Hofmarcher geht unterdessen von derzeit 1.050 solchen Betten in der öffentlichen Hand aus, die man für Corona-Erkrankte mit kritischem Verlauf freimachen könne. Diese Zahl ließe sich zwar mithilfe privater Institutionen erhöhen, sagt Hofmarcher; auf welches Ausmaß, sei angesichts der fragmentierten Dokumentation im Gesundheitswesen aber nicht ganz klar.

Wie viele Beatmungsgeräte es im Land gibt, galt indes kurzfristig überhaupt als Rätsel. 2.584 solcher Einheiten seien vorhanden, berichtete das Gesundheitsministerium am Montag. Am Dienstag korrigierten die Länder: In Summe gebe es 3.498 Stück. So seien etwa in der Steiermark nicht wie angegeben nur mehr 16 Prozent der Beatmungsgeräte frei, sondern noch 69 Prozent.

Eine beliebige Zeit hinter Italien

Eine andere Prognose, die zeigt, wie sehr die Experten im Trüben fischen, stammt vom Forschungsnetzwerk Complexity Science Hub Vienna, das ebenfalls Mitglieder in Kurz’ Beraterstab stellt. Vergangene Woche errechneten sie, dass sich Österreich bei den Covid-19-Todesfällen "genau drei Wochen hinter Italien" befinde.

Ein Horrorszenario, denn in Italien stieg die Zahl der Covid-19 zugerechneten Todesfälle innerhalb der drei als Maßstab angelegten Wochen trotz massiver Gegenmaßnahmen von 50 auf mehr als 6.000. Auf Nachfrage des STANDARD erklärte Stefan Thurner, der Präsident der Einrichtung, dass er die Projektion für die folgenden fünf Tage als äußerst gesichert erachte, sie sei von den besten Mathematikern des Landes geprüft. Mögliche Unsicherheiten würden sich erst danach erhöhen. Innerhalb dieser fünf Tage aber werde die österreichische Opferzahl von 50 auf 400 Tote steigen.

Am Dienstag war die genannte Zeitspanne verstrichen, doch die Zahl der Corona-Opfer lag nicht bei 400, sondern bei 128 Fällen, und der flachere Anstieg senkte sich im Verlauf der restlichen Woche noch weiter. "Zum Glück", so Thurner, folge Österreichs Pfad in der fünf Tage alten Prognose schon seit vier Tagen nicht mehr dem italienischen. Ähnliche ältere Befürchtungen, wonach Österreich "zehn bis 14 Tage hinter Italien" liege, hatten sich ebenfalls früh als falsch erwiesen.

Kein Grund für gelockerte Maßnahmen

Zusammenfassend: In Österreich wissen wir aufgrund der Zählweise der Todesfälle nicht, wie viele Personen tatsächlich an Covid-19 verstorben sind. Ob derzeit oder zu einem früheren Zeitpunkt einige Zehntausend oder mehrere Hunderttausend Sars-CoV-2 in sich tragen oder trugen, ist ebenso unklar. Und bei der Größe der Reproduktionszahl widersprechen sich Schätzungen selbst erfahrener Forscher. Dabei ließe sich aus diesen Unbekannten genau die Richtschnur drehen, an der die Gegenmaßnahmen anzulegen wären.

Grundsätzlich auch außerhalb von Corona-Zeiten sinnvoll: Saubere Griffe von Einkaufswagen.
Foto: EPA/CHRISTIAN BRUNA

Die Ungewissheiten sind kein Grund, die Maßnahmen zu lockern. Je strenger wir den Ansatz des Social Distancing einhalten, desto weniger Neuansteckungen wird es geben. Egal wie gefährlich oder übertragbar ein Virus ist, genügend Seife und physischer Abstand hungert ihn aus. So würde unser derzeitiges Verhalten, wenn wir es ganzjährig durchhielten, nicht nur eine unbekannte Zahl von Covid-19-Opfern vermeiden, sondern tausende Todesfälle durch alle Arten übertragbarer Krankheiten.

Keine #bleibdaheim-Parolen

Ein gewisses Maß an Realitätssinn angelegt, scheint es aber unmöglich, diese Kampagne unbefristet aufrechtzuerhalten, egal wie viele Leben sie zu retten in der Lage ist. Über kurz oder lang träfe sie die Existenz der Menschen auf andere Weise bis ins Mark, vor allem wenn sie ohne Perspektive bleibt.

Denn die restriktiven Maßnahmen fordern ebenfalls Opfer, wie Deutschlands Kanzlerin befürchtet: "Merkel will vermeiden – und sinngemäß sagte sie das auch in kleiner Runde –, dass es am Ende mehr Tote durch Suizide in der Einsamkeit hinter verschlossenen Türen gibt, als durch das Corona-Virus", stand vergangene Woche in der "Süddeutschen Zeitung". Auch die Warnungen der Frauenhäuser vor einem Anstieg häuslicher Gewalt werden nicht weniger eindringlich.

Wir werden der bitteren Wirklichkeit ins Auge blicken müssen, Menschenleben mit Freiheit aufzurechnen – wie wir es bei der saisonalen Influenza im kollektiven Unterbewusstsein schon bisher taten. Tausende Grippetote haben wir bisher Jahr für Jahr verschmerzt, gänzlich ohne Whatsapp-Videos, die uns zum Händewaschen animieren, ohne #bleibdaheim-Parolen von Netzbetreibern und Fernsehsendern, ohne Masken im Supermarkt und ohne uns impfen zu lassen. Obwohl wir den Impfstoff von der Apotheke ums Eck nur zum Hausarzt hätten tragen müssen. Vielleicht lehrt uns Corona vor dem kommenden Winter zumindest das. (Michael Matzenberger, 4.4.2020)