Update: Wenige Stunden nach Erscheinen dieses Beitrags wurde die hier kritisierte "Stellungnahme zur Covid-19 Krise" auf der Webseite der Regierung durch eine neue Version ersetzt, in der die angeführten Fehler korrigiert sind.

Die Zeit, die wir mit dem Anstarren von exponentiell ansteigenden Kurven verbringen, steigt exponentiell an, so ein sich in den letzten Tagen viral verbreitendes Meme. Tatsächlich lässt sich vermuten, dass viele Österreicherinnen und Österreicher im Zuge der Corona-Krise unfreiwillig ihre Erinnerung an die meist ungeliebte Exponentialfunktion aus längst vergangenen Schultagen aufzufrischen gezwungen waren. Der Höhepunkt dieser Mathematisierung der Gesellschaft war wohl am Vormittag des 30. März erreicht, als Bundeskanzler Sebastian Kurz in der Bilanzpressekonferenz den Satz aussprach: "Der Replikationsfaktor muss unter 1 sinken und mittelfristig in Richtung 0 verlaufen." Damit war die Mathematik der Epidemiologie endgültig in den heimischen Wohnzimmern angekommen.

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Basisreproduktionszahl unter 1

Möglicherweise stiftete dieser Satz allerdings mehr Verwirrung als Aufklärung, und zwar aus zwei Gründen, zu denen sich später noch ein dritter gesellen wird. Der erste Grund ist, dass der Begriff "Replikationsfaktor" zwar intuitiv ist, aber genau genommen unrichtig. Der Fachbegriff aus der Epidemiologie, der hier gemeint ist, wird als R0 bezeichnet und heißt Basisreproduktionszahl. Dieser Wert gibt an, wie viele Menschen eine infizierte Person am Beginn einer Epidemie im Durchschnitt ansteckt, bevor sie entweder wieder genesen oder aber verstorben ist. Für Covid-19 wird dieser Wert – ohne Ausgangsbeschränkungen oder dergleichen – in den meisten Studien als zwischen 2 und 3 liegend geschätzt. Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie, wie die in den letzten Wochen in Kraft getretenen, können diesen Wert senken.

Entscheidend ist, wie Bundeskanzler Kurz richtig bemerkte, dass R0 unter 1 gesenkt wird, denn erst dann wird die Ausbreitung des Virus gestoppt. Jeder Wert über 1 dagegen führt zu einem anfangs exponentiellen Wachstum der Anzahl an Neuinfektionen. Die Erklärung des Bundeskanzlers, der "Replikationsfaktor" müsse unter 1 sinken, stammt nicht von ihm selbst, sondern steht so in einer "Stellungnahme zur Covid-19 Krise", die eine Gruppe von Mathematikern der Universität Wien gemeinsam mit einem Biologen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in den Tagen vor der Pressekonferenz erstellt hatte und die auf der Webseite der Regierung abrufbar ist.

Was dabei stutzig macht, ist der zweite Halbsatz des Bundeskanzlers. Dass R0 "mittelfristig in Richtung 0 verlaufen" müsse, findet sich nämlich so nicht in der Stellungnahme der Experten. Tatsächlich ist dies auch weder notwendig noch wünschenswert. Ein Wert kleiner als 1 reicht völlig aus, um die Ausbreitung des Virus relativ schnell zum Erliegen zu bringen.

Wachstumsrate der Neuinfektionen

In Wuhan etwa wurde laut dem Expertenpapier durch starke Abschottung sogar eine Reproduktionszahl von 0,32 erreicht. Ein R0 nahe bei 0, wie es Sebastian Kurz im Sinn zu haben schien, wäre dagegen eine gefährliche Drohung. Es würde nämlich eine extreme weitere Verschärfung der bisherigen Maßnahmen erfordern, deutlich über jene in Wuhan hinaus, bis hin zur fast völligen Isolation aller Einwohner des Landes. Zum Glück ist das nicht notwendig. Der Bundeskanzler dürfte hier schlicht die Reproduktionszahl mit der Wachstumsrate der Neuinfektionen verwechselt haben, die ja tatsächlich mittelfristig hoffentlich gegen 0 gehen sollte.

Ein weiteres Detail aus dem Expertenpapier wurde zwar nicht von Bundeskanzler Kurz, aber von vielen Medien kolportiert: Der Replikationsfaktor von 1, den es zu erreichen gelte, entspreche einem täglichen Zuwachs von sieben Prozent an neu Infizierten. Erst ab einem täglichen Zuwachs von mehr als sieben Prozent komme es zu exponentiellem Wachstum. Diese Behauptung könnte allerdings viele Menschen zu verfrühter Hoffnung auf eine baldige Aufhebung der Einschränkungen verleiten. Denn wächst die Anzahl neu Infizierter um täglich sieben Prozent, so gilt dies auch für die Anzahl der Infizierten und – zumindest wenn man einen konstanten Dunkelzifferfaktor unterstellt – ebenso für die kumulierte Anzahl an positiv Getesteten, die stündlich aktualisiert und samt historischem Verlauf auf der Webseite des Gesundheitsministerium zu finden ist. Der tägliche Zuwachs dieser Anzahl lag aber diesen Angaben zufolge bereits von 28. bis 31. März unter sieben Prozent. Bedeutet dies etwa, dass wir einen "Replikationsfaktor unter 1" ohnehin bereits erreicht hatten, als Bundeskanzler Kurz dies erst als Ziel ausgab?

Täglicher Anstieg von 7 Prozent

Keineswegs! Die angeführte Behauptung in der Stellungnahme der Experten ist allerdings tatsächlich genauso verwirrend wie unplausibel, denn ein täglicher Zuwachs von sieben Prozent würde – wie jeder prozentuelle Zuwachs größer als 0 – natürlich ebenfalls zu einem exponentiellen Wachstum der Anzahl an Neuinfektionen führen. Ein Ende der Epidemie bei einem täglichen Zuwachs von sieben Prozent, wie soll das also gehen? Wie die Mathematiker auf diese Zahl gekommen sind, erklären sie in einer Fußnote so: Eine infizierte Person ist etwa zehn Tage lang infektiös. Da 1,07 hoch 10 ungefähr 2 ist, verdoppelt sich die Anzahl an Infizierten innerhalb von zehn Tagen, wenn der tägliche Zuwachs sieben Prozent beträgt. Da die anfangs Infizierten nach zehn Tagen aber nicht mehr ansteckend seien, entspräche der Zuwachs nach zehn Tagen genau der anfänglichen Zahl der Infizierten, also sei der Replikationsfaktor 1.

Leider ist diese Rechnung aber nur dann richtig, wenn alle anfänglich Infizierten am selben Tag infiziert wurden. Dann würde nämlich die Zahl der Infizierten neun Tage lang exponentiell bis auf das Doppelte wachsen, um am zehnten Tag, wenn alle anfänglich Infizierten gleichzeitig genesen, schlagartig wieder auf die ursprüngliche Anzahl Infizierter zu fallen. Das ist aber weder das, was man unter einem täglichen Wachstum von sieben Prozent gemeinhin versteht, noch das, was wirklich passiert. Vielmehr würden täglich etwa zehn Prozent der anfänglich Infizierten genesen, während der Rest weitere Personen ansteckt. Ein Replikationsfaktor von 1 bedeutet hier schlicht, dass die Anzahl der Infizierten insgesamt täglich konstant bleibt, also eben nicht mehr wächst. Das geschieht, wenn von der Gruppe der Infizierten jeden Tag etwa zehn Prozent jemanden anstecken, während am selben Tag etwa zehn Prozent genesen. In Summe beträgt der tägliche Zuwachs an Infizierten dann null Prozent. Und so weit sind wir leider noch lange nicht. (Ulrich Berger, 1.4.2020)

Ulrich Berger ist Professor am Department Volkswirtschaft der Wirtschaftsuniversität Wien.
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