Die Nationalratsabgeordneten haben in einer Sondersitzung am 17. März, einem Sonntag, im Ausweichquartier des Parlaments in der Hofburg in Wien ein Maßnahmenpaket zur Bekämpfung der Ausbreitung des Coronavirus beschlossen – einstimmig.

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Soziologe Reinhold Knoll warnt davor, dass die Corona-Ausnahmegesetze in die falschen Hände geraten könnten, darum müssten sie so schnell wie möglich wieder zurückgenommen werden, wenn die Corona-Krise überwunden ist.

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Das Coronavirus beeinflusst nicht nur unser aller Leben. Es lotet auch das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft neu aus. Besonders gefordert ist die Politik, weil sie gesundheits-, wirtschafts-, bildungs-, sozial-, aber auch demokratiepolitische Aspekte in einem hochkomplexen Prozess der Gleichzeitigkeit berücksichtigen muss. Das birgt mit Blick auf die Zeit "danach" auch große Gefahren, warnt Reinhold Knoll.

STANDARD: In welchem Verhältnis sehen Sie im Moment die Politik zu Corona?

Knoll: Auf der einen Seite muss man den Hut ziehen, weil unsere Bundesregierung als eine der ersten in Europa die Gefahren relativ schnell wahrgenommen und demgemäß gehandelt hat. Auf der anderen Seite müssen wir diese Ausnahmegesetzgebungen, wenn diese Schrecknisse vorbei sind, sofort wieder abschaffen. Ich habe panische Angst, gerade wenn wir die politische Situation in Ungarn, Italien, Polen, Deutschland, der Slowakei, aber auch in Österreich ansehen. Das ist lebensgefährlich für die Demokratie. Stellen wir uns vor, was andere Regierungen mit diesen Gesetzen machen könnten. Wir erinnern uns ja an die Notverordnungen von 1917, die 1934 zur Ausschaltung des Parlaments führten. Dabei galten die Notverordnungen damals ja nur für die sinnvolle Verteilung der Lebensmittel, um Hunger zu verhindern. Man muss unbedingt einen Rahmen schaffen, dass solche Dinge nicht möglich oder zumindest an eine Vierfünftelmehrheit im Parlament gebunden sind. Ich habe da große Sorge, denn unsere Demokratien sind derzeit nicht die stabilsten. Entweder droht eine Steigerung der Absurdität wie am englischen Beispiel oder eine Steigerung der autoritären Regierungsformen. Sollten solche Systeme diese Gesetze in die Hand bekommen, dann kann einem ganz schwummrig werden.

STANDARD: Sie sagen, die Pandemie zeige "das schwere Missverständnis von Wissenschaft und Gesellschaft". Aber ist es nicht so, dass es gerade die Wissenschaft ist – Medikamente, Impfungen et cetera –, in die wir jetzt alle Hoffnung setzen?

Knoll: Wir haben speziell die Medizin wie einen Selbstbedienungsladen betrachtet. Ich habe was – ich nehme das. Die Pandemie zeigt: Wir haben gar nichts, und, oje, die Wissenschaft kann nicht auf Knopfdruck liefern und in 14 Tagen etwas auf die Beine stellen. Das heißt, wir müssen lernen, dass die Wissenschaft zwar viel kann, aber sie kann nur so viel, wie sie dafür Zeit bekommt. Das ist im Rahmen einer Seuche natürlich schrecklich, weil in der Zwischenzeit sehr viele Menschen sterben und wir ihnen nicht helfen können.

STANDARD: Was fällt Ihnen als Soziologe, aber auch Privatperson zuerst auf, wenn Sie jetzt auf die Gesellschaft und die veränderte Welt in Zeiten des Coronavirus blicken?

Knoll: Vor zwei Wochen – ich wohne in der Innenstadt – wären auf dem Platz vor dem Stephansdom Heerscharen von Touristen zu beobachten gewesen. Jetzt sind es vielleicht fünf, sechs Leute. Ich habe dazu ein ambivalentes Verhältnis. Ich verstehe, was am Tourismus alles an ökonomischen Problemen und Bedeutungen hängt. Wenn ich jetzt aber einkaufen gehe, habe ich den Eindruck, dass die Stadt im Grunde genommen wieder zu einer Stadt werden kann. Sie gewinnt wieder ihre architektonischen Proportionen. Es ist unglaublich, plötzlich hat man eine Stadtansicht vor sich wie in der Malerei des frühen 18. Jahrhunderts, wie in einem Gemälde von Canaletto. Das Ganze ist entwirrt, und die Funktionen, die ablaufen, auch wenn sie sehr eingeschränkt sind, was nicht lustig ist, sind normale Reaktionen. Da kauft eben einer eine Semmel und der andere ein Paar Schuhe. Diese Heerscharen, die da über die Städte hereingebrochen sind – das war doch wie der Einfall der Barbaren in der Antike. Das ist doch höchst problematisch, von einer derartigen Ausbeutung von Kulturen zu leben. Damit Sie mich nicht missverstehen, wenn Goethe nach Italien gereist ist, dann war er natürlich auch Tourist, aber das war ein Tourismus, den man sich selbst gestaltete, auf den man sparen konnte. Jetzt fliege ich für 49 Euro für drei Tage nach London. Wozu denn das Ganze? Wir wollen immer mehr und mehr und machen uns gegenseitig kaputt.

STANDARD: Das ist aber doch eine recht privilegierte Position, um diese Krise zu beschreiben. Nur die wenigsten können jetzt den leeren Stephansplatz genießen. Viele andere müssen im Spital oder Supermarkt den Laden "Gesellschaft" am Laufen halten oder schauen, wie sie mit Kurzarbeit oder gar ohne Job über die Runden kommen.

Knoll: Wenn man in Pension ist, ändert sich die Perspektive. Natürlich ist es eine privilegierte Position. Fassungslos stehen wir auf der anderen Seite mit 244 Intensivpatienten (Stand 5. April) in den Spitälern gegenüber. Alle jene, die sie betreuen, sind außerordentlich gefordert. Und dennoch erinnere ich mich als Augenmensch plötzlich: Das schaut ja so aus, als würde ich ein Gemälde von Canaletto oder Guardi sehen. Das ist eine durchaus ambivalente Gleichzeitigkeit, weil ja beides präsent ist.

STANDARD: Sie sehen daher auch in dieser Pandemie eine Chance. Für wen und in welcher Form?

Knoll: Wenn ich an die Wirtschaft denke: Wir hatten eine unglaublich florierende Wirtschaft und sehen jetzt, dass die Betriebe nicht so viel Kapital bilden konnten, um eine Hungerperiode länger zu überleben. Man sollte den Betrieben wieder die Möglichkeit zur Kapitalbildung einräumen. Es wäre eine Chance, über eine sinnvolle Steuerpolitik nachzudenken. Das wird leider nicht geschehen. Denn wir werden für dieses Loch, das sich da öffnet, demnächst viel Steuergeld benötigen.

STANDARD: Welche Chance sollte die Corona-Krise für jene bergen, die überhaupt nicht in die Nähe von Kapital oder Kapitalanhäufung kommen? Die ihr Leben in ganz anderen Dimensionen auf die Reihe kriegen müssen? Die spüren, dass die Corona-Krise nicht nur sozial ungerecht, sondern eigentlich buchstäblich asozial ist, weil sie Menschen in sehr unterschiedlichem Maß sehr existenziell betrifft.

Knoll: Bei einer Seuche trifft es natürlich grundsätzlich jene, die in Grenzsituationen in der Gesellschaft leben. Das ist immer so. Aber was wir alle uns fragen müssen, ist doch, was wir nach dieser Seuche unbedingt anders machen müssen – von der Körperhygiene bis zur Lebens- und Tagesgestaltung. Was werden wir vielleicht später in einen normalen Alltag hinüberretten? Das wäre eine Chance. Man muss nicht jeden Abend in diese Fresstempel gehen, um die Kneipendiskussionen voranzutreiben. Man kann auch wirklich öfter daheim sein. (lacht)

STANDARD: Glauben Sie, dass etwas von der Solidarität, die jetzt gezeigt oder an die immer wieder appelliert wird, in die neue Welt hinübergerettet wird – oder ist das die Ausnahme im Ausnahmezustand?

Knoll: Da bin ich pessimistisch. Eine Dauersolidarität gibt es in dieser Gesellschaftsform wahrscheinlich nicht. Das kann man nicht durchhalten. Das ist ja von der sogenannten Politik ausnahmsweise auch sehr anständig, dass sie immer wieder betont, dass jetzt Menschen Übermenschliches zu leisten haben. Das ist klug und auch gerechtfertigt, aber das wird leider wieder verloren gehen.

STANDARD: Sie sehen in dieser Krise auch einen "Anlass für Absurditätsminimierung". Welche Absurditäten aus unserem alten Leben meinen Sie denn da konkret?

Knoll: Zum Beispiel "die große Gereiztheit", über die Bernhard Pörksen geschrieben hat. Das ist alles viel ruhiger und besonnener anzugehen. Diese Aufregungen etwa, die wir in der Straßenbahn erlebten, wenn jeder sein Handy gezückt und ganz aufgeregt gespielt oder telefoniert hat, das ist stillgelegt. Das ist doch großartig.

STANDARD: Erwarten Sie mittel- oder langfristig das große, breite Umdenken durch Corona?

Knoll: Leider nein, die Zeichen, die gesetzt werden, tun so, dass wir das überleben und überdauern müssen, um dann so weiterzumachen wie bisher. Das ist sehr schade. Sie werden es vielleicht belustigend finden, aber wenn man im Alten Testament schaut, gab es da immer wieder furchtbare Krisen. Heuschrecken, Seuchen, Schlangen, die die Menschen bedrohten. Der Sinn war, sich eine Umkehr zu überlegen. Und da sind wir nicht sehr gut aufgestellt. Jetzt wäre eine Chance. Allein wie sich die Luftgüte innerhalb von 14 Tagen verbessert hat oder die Reinheit der Gewässer, weil diese wahnsinnigen Kreuzfahrtschiffe in Venedig nicht mehr herumfahren. Das ist doch ein Fingerzeig. Wir könnten das! Die Welt ist kein Ferienparadies. Aber wir sehen sie oft so. Wir müssen uns viel bewusster werden, dass wir in dieser Biosphäre die Gestaltungskraft haben, aber sie muss mit den Ressourcen übereinstimmen. Da können wir nicht so weitermachen wie bisher. Wenn wir jetzt alles auf null haben, könnten wir ganz neu beginnen. Aber ich bin skeptisch. Das wird nicht der Fall sein. (Lisa Nimmervoll, 6.4.2020)