Tirols Grünen-Chefin und Vizelandeshauptfrau Ingrid Felipe fordert, angesichts der Krise nicht vorschnell über die Verantwortlichen zu urteilen.

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Innsbruck – Ingrid Felipe ist als Tiroler Umwelt- und Verkehrslandesrätin nach eigenen Aussagen nur am Rande in die Krisenstabsarbeit eingebunden. Im Videointerview mit dem STANDARD nimmt sie zur Kritik am Handeln der Verantwortlichen in Tirol Stellung und äußert sich zu den freiheitsbeschränkenden Maßnahmen, die im Zuge der Corona-Krise von ihrer Partei mitgetragen werden. Sie vermeidet Kritik am Koalitionspartner der Grünen, auf Bundes- wie auch Landesebene, und ruft zum Schulterschluss auf. Auf Fragen nach der eigenen Verantwortung bleibt sie klare Antworten schuldig und verweist auf eine Aufarbeitung der Ereignisse im Nachhinein.

STANDARD: Frau Felipe, hat man in Tirol alles richtig gemacht?

Ingrid Felipe: Ich glaube, dass angesichts der Herausforderung, vor die uns dieses Coronavirus stellt, nirgends auf der Welt alles richtig gemacht wurde. Auch in Tirol nicht. Daher ist es dringend geboten, nachdem wir die schwierigste Phase dieser Krise überwunden haben, das Ganze objektiv, transparent und vollumfänglich aufzuarbeiten. Dazu wird man sehr tief in die Analyse gehen müssen. Man wird mit jenen Menschen reden müssen, die Entscheidungen getroffen haben oder eben nicht oder zu spät getroffen haben, und welche Hintergründe es dafür gab. Und dann wird man tabulos darüber reden müssen, wer die Verantwortung zu tragen hat für die Dinge, die nicht gelungen sind.

STANDARD: Sie sprechen von Aufarbeitung danach. In Tirol gibt es Stimmen, die sagen, zum jetzigen Zeitpunkt sei Kritik unangebracht. Teilen Sie diese Meinung?

Felipe: Ich glaube, dass die Kritik auch jetzt schon wichtig ist, um zu erkennen, wo die Dinge nicht richtig laufen. Ich bin nur sehr vorsichtig mit dem Urteil, das ich fälle. Das mache ich jetzt ganz bewusst noch nicht. Zum einen, weil mir die Zeit für Recherche, Analyse und Gespräche mit jenen fehlt, die Verantwortung übernommen haben oder eben nicht. Und zum anderen, weil es ganz dringend geboten ist, in diesen schwierigen Stunden zusammenzustehen.

STANDARD: Aber Sie sind auch selbst seit Beginn im Krisenstab mit dabei, ist das richtig?

Felipe: Der Krisenstab, die sogenannte Landeseinsatzleitung, wurde am 24. oder 25. Februar 2020 erstmals einberufen und hat nach dem Katastrophenschutzmanagementgesetz eine formale Zusammensetzung. Als Regierungsmitglied bin ich nicht automatisch Mitglied, kann aber dabei sein. Ich war am 9. März 2020 das erste Mal dabei. Derzeit bin ich immer wieder dabei, aber nicht dauerhaft, weil dieses Gremium vor allem aus Expertinnen und Experten besteht.

STANDARD: War vor dem 9. März nur der Landeshauptmann als politischer Vertreter dabei oder auch andere Regierungsmitglieder?

Felipe: Das sind die Dinge, die ich derzeit nicht beantworten kann, weil ich keine Ressourcen habe, die Protokolle nachzulesen und zu recherchieren.

STANDARD: Aber seitens der Grünen war niemand vor dem 9. März in der Landeseinsatzleitung dabei?

Felipe: Ich glaube nicht, dass Gabriele Fischer (Soziallandesrätin der Grünen, Anm.) dabei war, aber ich weiß es nicht. Das sind Dinge, die wird man sich ansehen müssen.

STANDARD: An diesem 9. März wurde Südtirol erneut auf die Liste der Risikogebiete gesetzt, nachdem Land Tirol und Gesundheitsministerium – weil man die entsprechende Empfehlung des Robert-Koch-Instituts vom 6. März als überzogen erachtete – es drei Tage lang von der Liste genommen hatten. Waren Sie in diese Entscheidung involviert?

Felipe: Diese Entscheidung wurde fachlich in enger Abstimmung mit dem Ministerium getroffen, und ich hatte sie zur Kenntnis zu nehmen. Ich habe davon gehört, aber sie lag nicht in meinem Einflussbereich. Allgemein ist zu sagen, dass immer versucht wird, alle Entscheidungen zwischen Land Tirol und den Bundesministerien abzustimmen. Aber aufgrund der hohen Geschwindigkeit, mit der sich die Sachlage derzeit ändert, ist es nicht immer einfach, alle einzubeziehen.

STANDARD: Zu der Woche vom 9. März bis zur Unter-Quarantäne-Stellung der ersten Tiroler Gebiete am 13. März gibt es heftige Kritik, dass Personen in die Entscheidungsfindung der Landeseinsatzleitung eingebunden gewesen seien, die dort eigentlich nichts zu suchen haben, wie etwa Seilbahnvertreter. Ist Ihnen dazu etwas aufgefallen?

Felipe: Zur Einsatzleitung ist zu sagen, dass dies ein sehr geschlossenes Gremium ist, in das nicht jeder reinspazieren und mitreden kann. Dazu gibt es eben auch eine gesetzliche Grundlage. Also, in der Einsatzleitung passierte das somit ganz bestimmt nicht. Was natürlich passiert ist in dieser Zeit, wo so viele Fragen im Raum standen, dass es Diskussionen mit unterschiedlichen Vertretern von allen möglichen Interessenvertretungen und politischen Parteien gab. In der Aufarbeitung wird man analysieren müssen, wer die Entscheidungen getroffen hat. Denn bei diesen Personen liegt die Verantwortung.

STANDARD: Als am 13. März die Quarantäneverordnung für das Paznaun und St. Anton am Arlberg erlassen wurde, trat plötzlich der Bund erstmals in dem Zusammenhang in Tirol in Erscheinung. Haben Sie an der Abstimmung zwischen Land und Bund, die der Verordnung vorausging, teilgenommen?

Felipe: Die Frage ist immer, was ist die öffentliche Erscheinung, und was passiert im Hintergrund, auf Beamtenebene, das für die Öffentlichkeit nicht wahrnehmbar ist? Denn es ist so, dass auch die Öffentlichkeit erst ab einem gewissen Zeitpunkt, den ich nicht festmachen kann, großes Interesse an dem Thema entwickelt hat. Ich glaube, es ist sehr vielen so gegangen wie mir, dass sie das Thema anfangs unterschätzt haben. Im Februar dachte ich mir noch, das ist ein Phänomen in China, das mit uns nicht viel zu tun hat. Selbst als erstmals der Zug am Brenner festgehalten wurde (am 23. Februar, Anm.), habe ich noch nicht die Dimension erkannt, in der wir heute stecken. Es hat also auf Expertenebene und zwischen den Behörden sicher viele Gespräche im Vorfeld der Entscheidung (über die Quarantäne, Anm.) gegeben. Das setze ich voraus. Aber hinsichtlich der konkreten Entscheidung muss ich wieder Uneitelkeit an den Tag legen, da muss mich niemand um Erlaubnis fragen, das liegt nicht in meiner Macht. Und bei der Geschwindigkeit der Entscheidungen kann es sein, dass mir das keiner rechtzeitig gesagt hat.

STANDARD: Eine Verständnisfrage: Inwieweit sind Sie überhaupt in Entscheidungen eingebunden – oder haben Sie eine Rolle, in der Sie nur informiert werden?

Felipe: Ich bin seit dem 9. März 2020 sehr nahe an der Einsatzleitung dran. Wir haben tägliche Regierungsbesprechungen und mittlerweile jeden zweiten Tag Besprechungen mit den Klubobleuten der Landtagsparteien sowie den Bezirkshauptleuten. Und es gibt auch etliche Telefonate und Abstimmungen mit meinen Kollegen auf Bundesebene und den Ministerien. Also ich bin schon gut informiert und gut eingebunden und kann sehr oft auch meine Einschätzungen beitragen. Entscheidungskompetent bin ich dem Fall aber eigentlich gar nicht. Ich finde es ist wichtig, sich darauf zu besinnen, dass alle Entscheidungen, die da getroffen werden, von den demokratisch dafür legitimierten Ebenen getroffen werden, in bester Kooperation, denn wir haben eine gemeinsame Verantwortung.

STANDARD: Sie sagen, es ist eine Ausnahmesituation. Tirol hat in dieser Ausnahmesituation zusätzlich eine Ausnahmerolle, die auch international so beachtet wird. Trotzdem scheint Bundeskanzler Sebastian Kurz Tirol völlig zu ignorieren. Er nimmt das Wort nicht einmal in den Mund. Teilen Sie diese Wahrnehmung?

Felipe: Also diese Wahrnehmung habe ich nicht, aber ich habe auch nicht die Zeit, die mediale Berichterstattung nachzuverfolgen wie andere, die zu Hause sind. Daher kann ich diese Einschätzung nicht teilen.

STANDARD: Sprechen Sie in der Landeseinsatzleitung direkt mit dem Bundeskanzler?

Felipe: Der Landeshauptmann ist in regelmäßigem Austausch mit ihm. Da gibt es eigene Runden der Landeshauptleute mit der Bundesregierung.

STANDARD: Wie funktioniert der Austausch bei den Grünen intern? Sie sind ja in Tirol und auf Bundesebene in Regierungsverantwortung.

Felipe: Wir haben unseren Austausch zwischen Bundesländern und der Bundesebene. Gerade was die ganzen Maßnahmengesetze betrifft, war der Kontakt mit Sigi Maurer wichtig. Aber es gibt natürlich auch mit den Kabinetten, insbesondere jenem von Rudi Anschober (Gesundheitsminister der Grünen, Anm.), immer wieder einen Austausch.

STANDARD: So, wie Sie die Situation beschreiben, sind die Grünen trotz Regierungsverantwortung kaum noch in Entscheidungen eingebunden. Nun werden angesichts der Corona-Krise Maßnahmen erlassen, die die Freiheitsrechte der Bürger massiv beschneiden. Ein Thema, gegen das sich gerade die Grünen immer ausgesprochen haben. Doch nun machen sie, wie etwa Innsbrucks Bürgermeister Georg Willi oder Vizekanzler Werner Kogler, eifrig dabei mit. Geben die Grünen da nicht zu viel auf?

Felipe: Das wird man wohl auch erst in der Nachschau beurteilen können, was davon wirklich notwendig war, um der Pandemie Einhalt zu gebieten. Ich mache kein Geheimnis daraus, dass mich diese Einschränkungen auch schlecht schlafen lassen. Weil die Fragen der Demokratie und Freiheitsrechte wesentlich sind. Ich bin insofern beruhigt, als ich mir denke, wir haben eine grüne Bundesregierungsbeteiligung, und unsere Nationalratsabgeordneten werden mit der notwendigen Sensibilität vorgehen. Wir haben eine grüne Justizministerin, die eine besondere Rolle hat. Und wenn es um die Assistenzeinsätze des Bundesheers geht, ist der Bundespräsident der Oberbefehlshaber. Trotz allem Unbehagen, das wohl nicht nur ich habe, gibt mir das eine gewisse Sicherheit. Ich kann verstehen, dass sich die Menschen fragen: "Wie weit soll das noch gehen?" Andererseits ist das auch ein Widerspruch, wenn man kritisiert, Tirol habe zu spät reagiert. Hätte man früher gehandelt, bevor der Impact dieses Virus spürbar war, was wäre dann für eine Diskussion aufgekommen?

STANDARD: Als Beobachter hat man den Eindruck, dass in dieser Krise nur mehr die ÖVP entscheidet und die Grünen alles mittragen. Selbst der Eine-Milliarde-Euro-Härtefallfonds wird der ÖVP-nahen Wirtschaftskammer übergeben, anstatt ein unabhängiges Gremium mit der Verteilung der Gelder zu beauftragen. Fehlt hier nicht das Korrektiv der Grünen als kritischer Regierungspartner?

Felipe: Diese Einschätzung kann ich nicht teilen. Als Regierungsmitglied hier in Tirol kann ich meine kritischen Anmerkungen und Überlegungen in die Entscheidungsfindung einfließen lassen. Ich bin ein Regierungsmitglied und habe eine Mitverantwortung, ich bin keine Oppositionspolitikerin mehr. Wenn ich etwas zu kritisieren habe, mache ich das in der Regierungssitzung oder in Telefonaten. Es geht nun darum, gemeinsam daran zu arbeiten, dieses Virus einzudämmen, und es interessiert die Menschen nicht, parteipolitische Spielchen zu treiben. Wir sind Regierungspartei und arbeiten intensiv und spürbar mit. Mag sein, dass wir in Tirol nicht für Schlagzeilen sorgen, aber das mag daran liegen, dass wir unsere Arbeit solide und solidarisch zum Wohle der Bevölkerung machen. Es ist jetzt nicht der Zeitpunkt, sich über Medien auszurichten, wer der Große und wer der Kleine, wer der Blöde und wer der Gescheite ist.

STANDARD: Aber widersprechen Sie sich nun nicht selbst? Sie sagten doch eingangs, dass Sie keine Entscheidungen fällen, sondern nur informiert werden ...

Felipe: Ich habe gesagt, dass ich meine Überlegungen einbringen kann, aber nicht die Verantwortung für Entscheidungen trage. Weil ganz viele dieser Entscheidungen fallen gar nicht auf Landesebene. Vieles, was wir hier tun, ist mittelbare Bundesverwaltung. Das Covid-Maßnahmengesetz ist die große Grundlage für die Dinge, die nun in ganz Österreich passieren. Man kann versuchen zu gestalten und zu managen, aber was zu tun ist, ist vom Nationalrat vorgegeben.

STANDARD: Sie sagen, Sie bringen Ihre Kritik ein. Was wäre ein konkretes Beispiel dafür?

Felipe: Das ist ganz unterschiedlich. Was eine ganz spannende Diskussion war, ist die Frage des Umgangs mit dem "Frische-Luft-Schnappen". Wie geht man damit um, dass die Menschen ab und an einen therapeutischen Spaziergang brauchen? Das waren interessanten Debatten in Innsbruck, das sage ich ganz ehrlich, da muss man kein Farbenspiel spielen. (Innsbrucks Bürgermeister Georg Willi ist ebenfalls Grüner, Anm.) Da war die Frage, wie können wir es gut gestalten, dass die bergverliebten Tirolerinnen und Tiroler daheimbleiben, selbst bei strahlendem Wetter. Da habe ich mich sehr stark eingebracht.

STANDARD: Auf europäischer Ebene gibt es Kritik, Österreich würde sich nicht genug einbringen. Teilen Sie diese Kritik?

Felipe: Ich tue mir schwer, das zu beurteilen. Ich beschäftige mich vor allem mit dem Krisenmanagement in Tirol. Maßnahmen wie Grenzschließungen sind natürlich für einen Menschen wie mich nicht erbaulich. Aber jede Regierung versucht nach bestem Wissen und Gewissen die eigene Bevölkerung zu schützen. Es gibt für diese Krise keine Blaupause. Daher finde ich es schwierig zu sagen, die machen es richtig, und die machen es falsch. Wenn man Fehler macht, ist das der Beweis dafür, dass man es zumindest versucht hat. Nur derjenige, der nichts entscheidet und nichts tut, macht keine Fehler. Das ist eine riesige Herausforderung, und ich wünsche mir, dass wir alle zur Kenntnis nehmen, dass hier eine Zäsur passiert ist, die die globale Gesellschaft massiv verändern wird. Wir sind heute noch nicht in der Lage, das zu Ende zu begreifen. Ich maße mir das nicht an, heute über andere zu urteilen. Ich bin ja noch nicht einmal damit fertig, mich selbst zu fragen, wo habe ich vielleicht etwas falsch gemacht, und wo liegt meine Verantwortung? (Steffen Arora, 1.4.2020)