"Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!" Die größte Ironie besteht wohl darin, dass eine Person bereits ausspricht, was sie beklagt, nicht sagen zu dürfen.

Sie spürt insgeheim schon, dass das Folgende womöglich nicht schön sein wird. Sie weiß vielleicht, dass sie im Begriff ist, eine Äußerung zu tätigen, die für andere eine Diffamierung sein könnte.

Dennoch erfreut sich diese Phrase im medialen und politischen sowie im Alltagsdiskurs großer Beliebtheit. Damit lässt sich immerhin die Zusicherung erschleichen, keine Konsequenzen für das Gesagte tragen zu müssen.

Scheinheiliger Empörungs-Schlachtruf

Vielerorts scheint es demokratisch, ja, geradezu mutig, dass nun endlich angebliche Tabuthemen angesprochen werden (dürfen). "Man wird ja wohl noch die Dinge beim Namen nennen dürfen", lautet der scheinheilige Empörungs-Schlachtruf.

Zu dieser angeblich "mutigen Debatte" - deren Vertreterinnen und Vertreter tatsächlich selten an einer Diskussion, einem fairen Streiten oder gar an einem friedvollen Austragen von Konflikten interessiert sind - gehört auch, dass man plötzlich über vermeintliche "Gutmenschen" und ganz besonders über Frauen in öffentlichen Funktionen ungeniert spotten darf.

Beschimpfungen wie "Merkelnutte" auf den Social-Media-Kanälen der deutschen Bundeskanzlerin oder "Drecks Fotze", "Schlampe" und "Stück Scheiße, der man die Fresse polieren sollte" gegen die Politikerin Renate Künast finden sich mittlerweile täglich. Auch die Drohungen gegen die österreichische Justizministerin Alma Zadić zeugen davon, dass das Gewissen mancher Menschen einem eigenartigen Vogel gleicht. Ein Vogel, der schnell hinauf und dann für immer davonfliegt.

Der Psychotherapeut und Soziologe Klaus Ottomeyer nennt dieses Phänomen so passend den "Abbau der Gewissensfunktion".

Abgebaut wird die Gewissensfunktion auch gerne immer dann, wenn von Flüchtlingen die Rede ist. Rassistische Beleidigungen und fremdenfeindlich motivierte Gewalttaten finden ihren Ursprung in der Legitimation der Meinung: Das wird man wohl noch sagen - und folglich tun dürfen.

Doch, wir vergessen

Vor einem Jahr nahm ich an der 10-jährigen Gedenkveranstaltung zu den rassistisch motivierten Morden an Róbert Csorba und seinem kleinen Sohn, beide Angehörige der Volksgruppe der Roma, in Ungarn teil. Die häufigsten Sätze dieses Gedenkens waren "Nie wieder Rassismus!" und "Wir vergessen nicht!".

Die siebenbürger-ungarische Journalistin Parászka Boróka fasste in einem persönlichen Gespräch so treffend zusammen: "Eines der wesentlichen Dinge, die wir aus unserer Gegenwart lernen sollten, ist dies: Doch, wir vergessen!"

Zumindest der handlungsfähige, in Machtausübung lebende Teil der Gesellschaft vergisst. Und wenn er nicht vergisst, so tut er alles dafür, dass er sich mangelhaft oder verzerrt erinnert. Als Füllung dieser Lückenhaftigkeit dienen ihm diverse Bullshit-Parolen.

Jeder verbale Übergriff, jede sexistisch oder rassistisch motivierte Gewalttat entspringt einer Meinung (die man ja noch äußern wird dürfen) darüber, wer nun die Legitimation besitzt, über andere Lebensformen zu urteilen. Wer anderen Menschen die Daseinsberechtigung gewähren oder entziehen kann.

Während genau diese Menschen auf kulturelle Hegemonie, (christlich) demokratische Werte und Meinungsfreiheit in gesellschaftspolitischen Diskursen pochen, gedeiht und wächst der institutionelle Rassismus und Sexismus - und zwar mit Hilfe ihrer eigenen Phrasen.

Strategien gegen Bullshit

Wie lässt sich nun auf soziale Integration statt auf Exklusion setzen? Besonders dort, wo uns der Bullshit lähmt und uns die Wörter raubt? Oft wirken Interventionen oder Gespräche nach. Daher ist jede Äußerung besser als keine.

Eine Äußerung ist besser als keine!
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  1. Fragen Sie nach! Da sexistische, abwertende oder ausgrenzende Parolen meistens wenig reflektierte Äußerungen sind, hilft es oft, mit einer Gegenfrage zu reagieren. Zum einen, um zu verstehen, was das Gegenüber wirklich meint. Zum anderen, weil sich die Person ernst genommen fühlt und dann vielleicht eher zu Einsichten gelangt. Zum Beispiel: "Wie hast du das gemeint?"
  2. Achten Sie darauf, ob rational oder emotional argumentiert wird! Welches Bedürfnis steht eventuell dahinter? Schimpfwörter und Beleidigungen deuten auf einen emotional getönten Diskurs hin. Versuchen Sie, eine argumentative Kommunikation herzustellen. Stellen Sie Gesprächregeln auf (wie zum Beispiel ausreden lassen, bei einem Thema bleiben, nicht persönlich angreifen).
  3. Suchen Sie das Verbindende, die gemeinsame Basis! Wenn nach einem Gespräch weniger Spannung als zu Beginn des Gesprächs fühlbar ist, wenn Sie bei Ihrem Gegenüber einen Moment der Nachdenklichkeit erreicht haben, ist der Austausch hilfreich gewesen.
  4. Zeigen Sie Widersprüche auf! Achten Sie darauf, wenn Diskussionen verweigert werden oder das Gegenüber sich einer demagogischen Sprache bedient. Ausdrucksformen von demagogischer Kommunikation ist eine Opfer-Täter-Umkehrung oder die kalkulierte Ambivalenz (andeuten und dann leugnen). Versuchen Sie, dies sichtbar zu machen. Sie führen womöglich zu keiner sachlichen Argumentation, können Parolendrescher und Parolendrescherinnen aber dazu bewegen, über die eigenen Aussagen nachzudenken.
  5. Nicht-Faktoren dekonstruieren! Hinter xenophoben oder sexistischen Parolen stehen soziale Vorurteile. Vorausgesetzt, man hat sich Gehör verschafft und das Gegenüber lässt sich auf eine Diskussion ein, sollte man im ersten Schritt versuchen, das kollektive "die" aufzulösen. Denn es sind nicht "die Ausländer", "die Schwulen und Lesben", "die Frauen", die jeweils homogene Gruppen bilden.
  6. Wenn Menschen bestimmte Stereotype karikieren und den Anschein erwecken lassen, Herabwürdigungen seien harmlos, annehmbar und lustig - hören Sie auf, einverstanden zu sein und sprechen Sie dagegen! (Melinda Tamás, 15.4.2020)

Melinda Tamás hat Kultur- und Sozialanthropologie sowie Human Rights studiert. Sie arbeitet seit 2001 als Forscherin, Übersetzerin und als Trainerin in der Politischen Bildungsarbeit. Ihr Fokus liegt auf Antidiskriminierung, Antiradikalisierung, Gewaltprävention, Interkulturelle Sozialkompetenz und Kommunikation.

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