Im Gastkommentar fordert die Psychiaterin Beate Schrank ein psychosoziales Hilfspaket.

Seit zwei Wochen bestehen die Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus nun in Österreich, und ein rasches Ende ist nicht in Sicht. Auch wenn die Isolationsmaßnahmen für die meisten gut verständlich sein mögen, auch wenn man es schafft, sich gedanklich zu distanzieren und gelassen zu bleiben – ein gewisses Unbehagen bleibt wohl bei den meisten.

"Bleibt stark". Motivation in Zeiten von Corona.
Foto: Imago/Deutzmann

Menschen sind nicht für die Isolation gemacht. Im Gegenteil: Soziales Miteinander, soziale Verbundenheit sind zentral wichtig dafür, psychisch gesund zu bleiben. Die derzeitige Situation hat also zweifelsfrei Auswirkungen auf das gesellschaftliche Miteinander, aber auch auf jeden Einzelnen. Wie stark man unter den plötzlichen und massiven Veränderungen leidet, hängt ab vom sozialen Hintergrund wie Beruf, Einkommen, Wohnsituation und von der psychischen Resilienz, also der gesunden psychischen Widerstandskraft und Anpassungsfähigkeit in Krisen. Besonders negativ sind die Auswirkungen auf jene Menschen, die ohnehin schon in schwierigen sozialen Verhältnissen leben oder die psychische Probleme haben. Häufig kommt dies leider in Kombination vor – diese Menschen sind doppelt betroffen.

Ängste, Depressionen, Wahn

Um nur einige Beispiele zu nennen: Menschen mit vorbestehenden Ängsten und Depressionen haben besondere Probleme, sich gegen die in der Krise naturgemäß immer wieder aufkeimenden Zukunftsängste zu schützen, mehr Probleme, das Alleinsein zu ertragen, gegen die nagende innere Unruhe und Verzweiflung zu kämpfen. Für Menschen, die in schwierigen familiären Abhängigkeitsverhältnissen leben, ist es nun besonders schwer, sich gegen psychische und physische Gewalt zu schützen. Alkohol- und Drogenkonsum sind in der Einsamkeit der Isolation und der Unsicherheit von Arbeitslosigkeit schwerer zu kontrollieren.

Für Menschen, die Krieg und Flucht erlebt haben, werden traumatisierende Bilder reaktiviert. Das gilt nicht nur für Flüchtlinge aktueller Krisenherde und für unsere Mitmenschen, die während und nach den postjugoslawischen Kriegen zu uns kamen und nun besonders oft systemrelevante Arbeiten in der Pflege und im Handel leisten – es trifft auch und in besonderem Maße zu für die älteren Menschen, die nun häufig besonders einsam sind und an ihre frühe Kindheit im und nach dem Zweiten Weltkrieg und an die Traumatisierung ihrer Eltern erinnert werden. Ein weiteres Beispiel sind Menschen, die zu Psychosen neigen. In der psychiatrischen Praxis sieht man derzeit ein vermehrtes Aufkommen an Menschen mit paranoiden Wahnvorstellungen, Schuldwahn oder anderen Wahnvorstellungen, die direkt durch die Informationen und die Maßnahmen rund um die Corona-Krise getriggert sind.

Eingeschränkte Hilfsangebote

All diese Menschen sind besonders abhängig von psychosozialen Einrichtungen und Diensten. Zum Glück existiert in Österreich eine große Bandbreite solcher Hilfsangebote: von Ambulanzen über aufsuchende soziale Dienste und Hilfe zu Hause bis zu Tagesstätten, Beschäftigungsprojekten und betreutem Wohnen und nicht zuletzt den zahlreichen niedergelassenen Psychiaterinnen, Psychiatern sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten.

Durch die Auflage, persönliche Kontakte einzuschränken, um die Infektionsgefahr zu reduzieren, ist der psychosoziale Versorgungssektor in seiner Funktionsfähigkeit jedoch massiv eingeschränkt. Das betrifft nicht nur die genannten, besonders verletzlichen Personen, sondern jede und jeder von uns kann durch die Corona-bedingten plötzlichen, unerwarteten und gravierenden Veränderungen aus dem sozialen und psychischen Gleichgewicht geraten.

Kritische Infrastruktur

Heute kann niemand sagen, welche Folgen das für die betroffenen Menschen und für die Gesellschaft insgesamt haben wird. Es ist jedoch zu erwarten, dass die negativen Auswirkungen der fortgesetzten Belastung und der zugleich eingeschränkten Unterstützung in den kommenden Wochen immer deutlicher werden. Daher ist es dringend nötig, psychosoziale Versorgung auch außerhalb des Krankenhauses als kritische Infrastruktur zu betrachten.

Es braucht eine gesellschaftliche und politische Anstrengung, um tragbare Pläne zu entwickeln um die voraussehbare Welle an psychosozialen Krisen abzufedern. Die psychosoziale Gesundheit jedes und jeder Einzelnen ist zumindest ebenso zentral für das Wohl der Gesellschaft als Ganzes wie die Gesundheit von Betrieben. So wie sich die Politik (zu Recht!) Gedanken über die wirtschaftlichen Folgen der derzeitigen Ausnahmesituation macht, muss sie auch konkrete Initiativen zur Überwindung der sozialen Folgen ins Leben rufen: Es ist Zeit für ein psychosoziales Hilfspaket. (Beate Schrank, 2.4.2020)