Lassen sich jetzt Abschottungspraktiken und Überwachungstechnologien nachhaltig installieren?

Foto: APA/AFP/MONIRUL BHUIYAN

Ums Nicht-live-Dabeisein dreht sich gerade alles. Vielleicht aber ließe sich ja die derzeitige Unterbrechung unseres normalen Lebens dazu nutzen, Social Distancing breiter zu fassen und politisch darüber nachzudenken, wie wir leben wollen. Scheinbar trifft uns Covid-19 alle gleich, obwohl Supermarktkassierinnen oder das medizinisches Personal, was die Infektionsgefahr anbelangt, offenkundig gleicher sind als andere. Und tatsächlich wird diese Einsicht, dass wir eben nicht alle gleich positioniert sind, inzwischen auch auf andere Ebenen übertragen. Wer hat noch Zugang zu einer Grundversorgung, wenn die Obdachlosentafeln schließen müssen? Wie sollen Kinder online unterrichtet werden, wenn Familien keinen Computer haben? Wen trifft häusliche Gewalt besonders? Und was machen die, deren Jobs wegfallen und die ihre Mieten auch später nicht zurückzahlen können?

Inexistente Grundversorgung

Plötzlich werden nicht nur Rufe nach Einmalprämien für prekär Beschäftigte in systemrelevanten Betrieben laut, sondern nach einem bedingungslosen Grundeinkommen, der Unterbrechung der Mieten für arbeitslos Gewordene, der Verstaatlichung essenzieller Wirtschaftsbereiche oder nach Regierungsintervention gegen Krisengewinne – etwa gegen den Patentschutz für überlebenswichtige Pharmazeutika. Wer hätte angesichts neoliberaler Deregulierungen und des Abbaus sozialstaatlicher Errungenschaften in den letzten Jahrzehnten gedacht, dass solche Forderungen überhaupt auf breiterer Ebene ansprechbar werden könnten? Was die Art und Weise kostet, wie wirtschaftliche Sachzwänge behauptet und entsprechend durchgesetzt wurden, zeigen die Ereignisse in Italien und den USA gerade exemplarisch: Die kaputtgesparte oder ohnehin weitgehend inexistente Grundversorgung im Gesundheitsbereich, die Abwesenheit eines Kündigungsschutzes im Krankheitsfall, erweist sich für viele als tödlich.

Ökologische Erholungserscheinungen

Deshalb geht es jetzt nicht darum, nur möglichst schnell eine Wirtschaftskrise abzuwenden und dann weiterzumachen wie bisher, sondern die Art des Wirtschaftens selbst zu diskutieren. Schließlich zeigt sich auch an den unerwartet schnell wahrnehmbaren ökologischen Erholungserscheinungen, dass es möglicherweise nachhaltigere Steuerungsinstrumente als Rettungsschirme für Hotelkonzerne in Kunstschneegebieten, Billigflieger nach Ballermann oder Betongoldspezialisten geben mag. Die gegenwärtige Unterbrechung des Alltags für die Diskussion um Grundsatzfragen zu nutzen wäre eine Chance, die es nicht zu verschenken gilt: Wie wird unsere Gesellschaft gerade nachhaltig umgebaut? Welche Alternativen lassen sich denken? Und wie wird in diesem Zusammenhang Politik performt?

Gewaltenteilung aufgehoben

Weil wir scheinbar alle gleich betroffen sind, lässt sich diese gerade umso leichter als patriarchales Familienmodell inszenieren und dabei der Ausbau von Abschottungspraktiken und Überwachungstechnologien nachhaltig stärken. Im Gegenzug zu der plötzlichen Diskursfähigkeit von Umverteilungsfragen verstärkt sich nun jener autoritäre Turn, der sich bereits vor der Corona-Krise mancherorts abgezeichnet hat. Da zukünftig relevante Entscheidungen jetzt gefällt werden, sollten wir uns vor allem fragen, wie wir nicht regiert werden wollen: Inzwischen wurde in Ungarn die Gewaltenteilung auf unbestimmte Zeit aufgehoben. Auf den Philippinen werden Leute bei Verstößen gegen die Corona-Regelungen in Hundekäfige gesperrt. In Israel steht die Regierungsbildung aus, während der Geheimdienst Bewegungs- und Kontaktsprofile erstellt; die Daten sollen nun mit einem privat entwickelten AI-Programm für individualisierte Infektionsratings kurzgeschlossen werden. Wer in Griechenland vor die Tür will, muss das per SMS anmelden.

In Frankreich – offiziell im Corona-"Krieg" – darf die Bevölkerung nur 30 Minuten spazieren gehen – der Radius schwankt zwischen 200 Metern und einem Kilometer. All dies trägt kaum zu einem sinnvollen Krisenmanagement und notwendiger Kontaktreduktion bei, normalisiert aber zunehmend eine Politik extralegaler Maßnahmen. Dabei wird die Angst vor dem Virus in deutlich gegenderter Weise ausgenutzt, um neue Regierungstechniken in altbekannt väterlichem Gewand zu etablieren und ein Großfamilienbild mit schutzbedürftiger Bevölkerung zu produzieren.

Nachbarschaftliche Qualitäten

Und genau dieses Bild trägt nicht nur dazu bei, innenpolitisch durchzuregieren; es legitimiert zugleich die Abschottung nach außen. In den Lagern an den europäischen Außengrenzen warten tausende Geflüchtete auf engstem Raum und unter katastrophalen hygienischen Bedingungen darauf, wann sie das Virus erwischt. Auf den griechischen Inseln wird es keine Intensivstationen für die dort Gestrandeten geben. Die EU nimmt bislang billigend Tausende von Toten in Kauf, weil sich die einzelnen Staaten vor der Krise nicht auf einen Verteilungsschlüssel einigen konnten und das Thema dann erst einmal erledigt schien. Sollten wir nicht unsere neuentdeckten nachbarschaftlichen Qualitäten unter den Bedingungen von Social Distancing tatsächlich ernst nehmen und die sofortige Evakuierung dieser unwürdigen Lager fordern, für die unsere Regierungen verantwortlich sind?

Lebenswertes Leben

Österreich hat erreicht, dass in den letzten Wochen laut Regierungsangaben pro Tag nur noch zwölf Asylanträge gestellt wurden. Dennoch wurde ein faktischer Einreisestopp durch ein nun erforderliches Gesundheitszertifikat verfügt, um "uns" zu schützen. Gerade jetzt, mitten in der Krise, wäre es an uns, deutlich zu machen, dass wir uns nicht in lebenswertes und lebensunwertes, in schützenswertes und von der Grundversorgung ausgeschlossenes Leben einteilen lassen wollen. Anstatt die neue Solidarität auf eine nationale Familiengemeinschaft zu beschränken, gilt es, die Notbremse zu ziehen und zumindest das vor Beginn der Corona-Krise außer Kraft gesetzte Asylrecht wiederherzustellen, die Leute in den Lagern auf die EU verteilt umzusiedeln und so diese Politik mutwilligen Sterbenlassens zu verhindern. (Evelyn Annuß, 3.4.2020)