Das Ostlondoner Kongresszentrum Excel wird zum Krankenhaus umgebaut.

Boris Johnson arbeitet auch mit Corona.

Viel Kritik gibt es am langjährigen Sparkurs im Gesundheitssektor.

Um in der zunehmenden Kompetenzkrise seiner Regierung Führungsstärke zu demonstrieren, hat sich Boris Johnson aus der Selbstisolation zurückgemeldet. Mittels einer Videobotschaft versicherte der britische Premierminister erneut, im Nationalen Gesundheitssystem NHS werde die Zahl der Tests auf Covid-19 "massiv erhöht: Auf diese Weise können wir das Virus besiegen."

In den Londoner Medien stieß das am Mittwochabend hastig auf den sozialen Medien verbreitete wackelige Handyfilmchen auf wenig Gegenliebe. "550.000 NHS-Mitarbeiter, nur 2.000 getestet", verkündete die empörte Schlagzeile des Millionenblatts "Daily Mail" am Donnerstagmorgen. Mehrere Zeitungen druckten auf der Titelseite Bilder einer leeren Drive-through-Testanlage in Chessington, südwestlich von London. "Testpläne im Chaos", überschrieb "The Times" das Foto, das Boulevardblatt "Mirror" diagnostizierte knapp ein "Durcheinander" (Shambles).

"Trauriger Tag"

.Johnson hatte sich nach einem positiven Corona-Test vergangenen Freitag in die Selbstisolation zurückgezogen. In seiner Videobotschaft sprach der sichtbar mitgenommen aussehende Johnson von einem "sehr traurigen Tag": Am Mittwoch verzeichnete Großbritannien 563 Covid-Tote, den bisher höchsten Tageswert; die Gesamtzahl stieg damit auf 2.352 Verstorbene.

Langsam, aber sicher scheint sich die bereits vor Wochenfrist von Londoner Intensivärzten hinter vorgehaltener Hand geäußerte Befürchtung zu bewahrheiten, auf der Insel würden "bald italienische Verhältnisse" herrschen.

Neben der anhaltenden Knappheit von Beatmungsgeräten schält sich zunehmend der Mangel an zuverlässigen Tests als Hauptproblem des Landes heraus. Johnsons Beteuerung klingt schon deshalb schal, weil er in ähnlichen Worten schon seit Wochen vage von einer "massiven Aufstockung" redet und bis zu 250.000 Tests täglich beschwört.

Die Realität sieht anders aus. Auf der täglichen Regierungspressekonferenz verkündete Wirtschaftsminister Alok Sharma am Mittwoch stolz, es seien binnen 24 Stunden 10.412 Tests und damit erstmals mehr als 10.000 gemacht worden. Allerdings musste Yvonne Doyle von der Gesundheitsbehörde PHE einräumen, was "The Mail" tags darauf zur Schlagzeile machte: Lediglich 2.000 der mit Covid-19-Patienten beschäftigten Krankenpfleger und Ärztinnen sind bisher auf das Virus getestet worden.

125.000 Ärzte und Pflegepersonal in Selbstisolation

Schätzungen zufolge stehen landesweit rund eine halbe Million Ärzte und Pflegepersonal im direkten Patientenkontakt. Am Mittwoch befanden sich rund 125.000 von ihnen in der Selbstisolation, weil sie selbst oder Mitglieder ihres Haushalts Symptome wie Fieber oder anhaltenden Husten aufwiesen. Ob dabei tatsächlich Covid-19-Fälle vorlagen, blieb wegen fehlender Tests ungeklärt.

Die sechstgrößte Industrienation der Welt hat zu Beginn der Pandemie versucht, sämtliche Coronavirus-Patienten ausfindig zu machen und deren Umfeld zu testen. Als die Zahl der Fälle immer weiter wuchs, zeigten sich die Labors auf der Insel überfordert. Bis heute werden Kranke erst getestet, wenn sie ins Spital eingeliefert werden müssen. Die Direktive der Weltgesundheitsorganisation WHO ("Test, Test, Test") spiele für ihr Land keine Rolle, behauptete Jennifer Harries, die stellvertretende Gesundheitsamtsleiterin Englands: "Wir haben ein extrem gut entwickeltes Gesundheitssystem."

Kritik am Kranksparen des Gesundheitssystems

"Daran äußern immer mehr Regierungskritiker ihre Zweifel. In der zehnjährigen Regierungszeit von Johnsons Konservativen wurden so viele Intensivbetten geschlossen wie in keinem anderen entwickelten Industrieland. Zu Beginn der Krise wies die Insel 6,6 Betten pro 100.000 Menschen auf.

Der vergleichbare Wert für Deutschland betrug 29,3, der für Österreich 28,9. Die Pandemie beflügelt immerhin den britischen Improvisationsgeist: Binnen vierzehn Tagen haben Armee und NHS-Logistiker das Ostlondoner Kongreßzentrum Excel zum Krankenhaus umgebaut. Es ist benannt nach der legendären Krankenschwester Florence Nightingale, die durch ihren pionierhaften Einsatz im Krimkrieg (1853–1856) und anschließende Veröffentlichungen einen wesentlichen Beitrag zur modernen Krankenpflege geleistet hat.

Dieser Tage soll das neue Spital seine Pforten für die ersten leichteren Covid-19-Patienten öffnen, die derzeitige Kapazität beläuft sich auf 500 Betten, notfalls könnte die 1,8 Kilometer lange Halle bis zu 4.000 Erkrankte aufnehmen. Ähnliche Projekte gibt es auch in Birmingham, Manchester, Glasgow und Cardiff.

Keine zuverlässigen Tests

Das A und O der Pandemiebekämpfung aber bleiben zuverlässige Tests, und denen läuft das NHS weiter nach. Kabinettsminister Michael Gove verwirrte diese Woche die Öffentlichkeit durch den Hinweis auf "fehlende Chemikalien"; in Wirklichkeit hat die Regierung schlicht versäumt, bei den entsprechenden Anbietern rechtzeitig die Bestandteile der Tests zu bestellen. Dabei gibt es gelegentlich auch enttäuschte Hoffnungen. Londoner Medien berichteten kürzlich, eigentlich als seriös geltende Zwischenhändler hätten chinesische Tests zum Kauf angeboten. Die fällige Prüfung durch die zuständige Gesundheitsbehörde ergab, dass die Tests aber nur eine Genauigkeit von circa 30 Prozent aufwiesen. Das NHS hat daraufhin dankend abgelehnt. (Sebastian Borger, 2.4.2020)