Romanistik-Professor Georg Kremnitz plädiert für eine runderneuerte, in ihren Strukturen gestärkte Europäische Union.

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Ist das europäische Institutionengeflecht stark genug, um der Corona-Pandemie Herr zu werden? Der deutsche Romanist Georg Kremnitz, Autor eines Standardwerks über Mehrsprachigkeit in der Literatur, beschäftigt sich seit langem mit den Verwerfungen innerhalb der EU. Im Interview zieht er sogar einen Neuentwurf der Union ernsthaft in Betracht.

STANDARD: Die romanischen Länder Italien und Spanien sind von der Pandemie stark betroffen. Der spanische Nationalstaat war in den vergangenen Jahren harten Belastungsproben ausgesetzt. Wie bewährt er sich in der Krise?

Kremnitz: Beide Länder wurden von der Krise 2008 stark getroffen, dabei ist viel kaputtgegangen. Danach wurden ihnen empfindliche Spar- und Privatisierungskurse aufgezwungen. Die führten zum Abbau von Strukturen – das gilt übrigens genauso für Frankreich, wo Tausende von Spitalsbetten abgeschafft wurden. Solche Privatisierungen sind, um es freundlich zu sagen, zwiespältig.

STANDARD: Inwiefern?

Kremnitz: Von 30 privaten Kliniken in Madrid zum Beispiel haben sieben geschlossen. Es sei, so die Begründung, nicht die "richtige Klientel" erschienen. Das wirft die Frage auf, ob die Privatisierung von Strukturen, die für die Allgemeinheit vorgesehen sind, der richtige Weg sein kann. Ob man sie dem Gewinnstreben unterwerfen darf. Im Fall von Spanien hat sich überdies gezeigt, wie wenig die verschiedenen Ebenen miteinander gearbeitet haben

STANDARD: Sie meinen Regionen wie Katalonien?

Kremnitz: Katalonien hat deutlich früher eine Ausgangssperre verhängt als Madrid. Die lokalen ¬Verantwortlichen haben ihrerseits die Zentralregierung erst zum Handeln veranlasst. Dieses erfolgte deutlich später. Der internationale Frauentag am 8. März musste noch mit 120.000 Menschen abgefeiert werden. Die Abhaltung der Kommunalwahlen in Frankreich war ebenfalls kühn. Ich hatte den Eindruck, dass die Ebenen nicht gut miteinander verzahnt waren. Aber um diese Feststellung zu treffen, reicht es aus, auf das Verhältnis von Ischgl und Wien zu blicken.

STANDARD: Nehmen die Menschen das Management der Nationalregierungen nicht erstaunlich zustimmend zur Kenntnis

Kremnitz: Die Nationalstaaten sind auf die Herausforderung eingegangen, weil die EU das nicht getan hat. Der Union kann man nur bis zu einem gewissen Grad Säumigkeit vorwerfen. Sie hat auf dem Gebiet fast keine Kompetenzen, auch agiert eine neue Kommission, die nicht eingearbeitet ist. Sie hat aber auch nicht von vornherein versucht zu koordinieren. Man liest jetzt allenthalben: Das sei die Stunde der Regierungen. Ich denke, es wird die Stunde kommen, da man eine Evaluierung vornehmen muss. Ob dann alle Regierungen so glänzend abschneiden, ist fraglich. In Frankreich wird das Regierungshandeln bereits massiv infrage gestellt. Die Versäumnisse dort sind größer als anderswo.

STANDARD: Wobei der Gelbwesten-Protest bereits vorab delegitimierend gewirkt hat.

Kremnitz: Die Präsidentschaft Emmanuel Macrons ist bisher nicht sehr glücklich verlaufen. Da meinte jemand, er sei der Überflieger. Macron hat über die Realitäten in seinem Land vielfach nicht Bescheid gewusst.

STANDARD: Plötzlich treten die Nationalstaaten als "Grenzschutzagenturen" auf. Finden wir Schengen-Europäer uns endlich bei Zöllner und Schlagbaum wieder.

Kremnitz: Eine gesamteuropäische Politik, die gestuft einzelne Probleme angegangen wäre, hätte wahrscheinlich mehr erreichen können. Das ist aber zum jetzigen Zeitpunkt nicht diskutierbar. In Wirklichkeit sind die Grenzen gar nicht geschlossen, sondern mit ordent¬lichen Mauselöchern gespickt. Corona ist, genauso wie das Klima, eine Angelegenheit für größere Entitäten, als es Staaten sind. Da die Europäische Union aber in den letzten Jahren so völlig von ihren eigenen Ansprüchen abgerückt ist, haben die Nationalstaaten versucht, die Lücke zu schließen.

STANDARD: Der Staat weckt die Suggestion, Sicherheit zu gewährleisten. Doch wie stabil ist dieses Ansehen?

Kremnitz: Es würde einer sehr selbstbewussten Europäischen Kommission bedürfen, um gegenzusteuern. Der hat man aber massiv die Flügel gestutzt. Ich frage mich, ob nicht überhaupt die jetzige Konstruktion in einer Sackgasse gelandet ist. Ob nicht ein Europa der zwei Geschwindigkeiten richtiger wäre? Vielleicht sollte man überhaupt eine Neugründung ins Auge fassen; wobei sich die einigermaßen Willigen auf der einen Seite zusammenschließen. Auf einigen wichtigen Feldern wie der Wirtschaft oder der Finanzpolitik würden diese eine einheitliche Politik betreiben. Das wäre sinnvoll, ist nur unvereinbar mit den vorhandenen Strukturen. Es kann sein, dass die Schwäche der Einzelstaaten in der Bearbeitung der wirtschaftlichen Krisenfolgen schlagartig sichtbar wird. Das könnte viele veranlassen, nach Ersatzlösungen zu rufen.

STANDARD: Welche meinen Sie?

Kremnitz: Die Neugründung einer sehr viel kleineren Union, in der Mitglieder, die sie nur als Melkkuh ansehen, außen vor bleiben.

STANDARD: Es gibt Staatenlenker, die die Situation benutzen, um zu definieren, was sie unter einem Ausnahmezustand verstehen.

Kremnitz: Alle diese Spieler, die nationalistische Träume ausleben, agieren nach dem Prinzip: Die Hunde bellen, die Karawane zieht weiter. Gewisse Teile müssen sich für eine Vertiefung der europäischen Vorstellung entscheiden. Es wird vielleicht nicht möglich sein, die "Europäische Republik" auszurufen. Aber vielleicht kann die Krise dazu dienen, die Defizite bewusst zu machen, um an ihrer Beseitigung nachhaltig zu arbeiten. Das hieße: die Implementierung strengerer Regeln, deren Nichtbefolgung Sanktionen nach sich zieht.

STANDARD: Die Europäische Union ist zu nachsichtig?

Kremnitz: Sie ist auch schwach gehalten worden. Sie hat es nicht vermocht, ihre Möglichkeiten in die Realität zu übersetzen. (Ronald Pohl, 3.4.2020)