Der 2. April 2020 markiert einen Wendepunkt in der Geschichte Europas: Er betrifft sehr konkret die Europäische Union und ihre 27 Mitgliedsstaaten. Das neue Kapitel kam nicht dramatisch daher. Es zeigte sich eher still – in Sterbestatistiken.

An diesem Tag wurde in Spanien die Schwelle von 10.000 Toten als Folge einer Infektion mit dem Coronavirus überschritten. Das Land mit 46 Millionen Einwohnern hat Italien, wo es bisher rund 13.000 Tote gab, als Hotspot einer menschlichen und ökonomischen Katastrophe abgelöst. Spanien hat deutlich weniger Einwohner als Italien.

Die Dynamik ist enorm. Es gibt Anzeichen, dass es in Teilen Frankreichs bereits zu einer ähnlichen Entwicklung gekommen ist. Etwas schwächer, aber nicht weniger besorgniserregend läuft es in Benelux: Im kleinen Belgien wurde die Schwelle von 1000 Corona-Toten überschritten, die Niederlanden erreichten diese Marke tags davor. Und noch eine "Schallmauer" wurde am 2. April durchbrochen: Es gibt in den EU-Staaten nun mehr als 30.000 Corona-Opfer – weit mehr als im Rest der Welt, mit China und den USA.

Kein EU-Land kann diese Krise allein und egoistisch überwinden.
Foto: EPA/STEPHANIE LECOCQ

Man könnte also annehmen, dass in den Regierungszentralen der EU-Staaten wie in der Kommission in Brüssel nicht nur die Alarmglocken läuten, sondern hektische Aktivität ausbricht. Und dass sofort ein permanenter EU-Krisenstab der Staats- und Regierungschefs eingerichtet wird.

Wirtschaftlicher Kollaps

Weit gefehlt. Die Regierungschefs telefonieren miteinander, vorige Woche haben sie zuletzt einen Videogipfel ohne echte Ergebnisse abgehalten. Präsidentin Ursula von der Leyen beglückt die EU-Bürger täglich mit Videobotschaften. Viel mehr ist gerade nicht los im gemeinsamen Europa. Das erscheint nicht nur wegen der galoppierenden Pandemie an der Grenze zur Fahrlässigkeit. Mit jedem Tag mehr wird deutlich: Der gesundheitlichen Tragödie könnte der wirtschaftliche Kollaps folgen, wenn nicht rasch und entschlossen gehandelt wird, eben nicht nur auf nationalen Ebenen, sondern vor allem auf Basis der Gemeinschaft.

Nun ist es durchaus verständlich, wie sehr die Regierungschefs in der größten Krise seit Jahrzehnten unter Druck stehen – auch ganz persönlich. Der Suizid des hessischen Finanzministers sollte allen eine Warnung sein, die in dem Chaos vorschnell über "die Politiker" herfallen. Es ist auch nachvollziehbar, wenn nationale Regierungen sich zuerst darauf konzentrieren, ihre eigenen Bürger zu schützen.

Aber das kann keine Ausrede sein. Kein EU-Land kann diese Krise allein und egoistisch überwinden. Wenn es in den nächsten Wochen "dumm" und unsolidarisch läuft, fährt die ganze EU, die im Binnenmarkt auf Gedeih und Verderb verflochten ist, an die Wand. Wir alle. Es wäre hoch an der Zeit, dass EU-Premiers von Angela Merkel bis Sebastian Kurz, Emmanuel Macron bis Stefan Löfven jetzt energisch als gemeinsame Europäer handeln.

Die Corona-Gefahr haben die Regierungen der EU-27 bzw. deren Gesundheitsminister vor zwei Monaten bereits gewaltig unterschätzt, wie eine Recherche von Reuters belegt. Angebote der EU-Kommission schon Ende Jänner, bei Schutzmasken und Tests auszuhelfen, wurden kollektiv abgelehnt mit dem Vermerk, man habe "alles im Griff". Eine unverzeihliche Fehleinschätzung in den Hauptstädten, wo ganz offensichtlich der Überblick fehlte über die gesamteuropäischen Entwicklungen. Hält dieser Zustand der Schlafwandler an den Staatsspitzen an, wird es gefährlich. (Thomas Mayer, 2.4.2020)