Die "Sensibilität" von Smartphones eröffnet der medizinischen Diagnostik eine völlig neue Dimension.

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Nichts macht die "Bipolarität" unserer Smartphones zwischen Spion und bestem Freund deutlicher als die Chancen, die Handys im Gesundheitsbereich bieten. Die "Sensibilität" von Smartphones eröffnet der medizinischen Diagnostik eine völlig neue Dimension, die mit dem Begriff Digitale Phänotypologie bezeichnet wird. Erforschung und Anwendung dieser Möglichkeiten sind noch jung, das meiste befindet sich noch im Versuchsstadium.

Smartphones erkennen selbst kleinste Gewohnheiten und deren Änderungen. Dazu gehören Kommunikation, besuchte Websites, Medien, unsere App-Gewohnheiten, Standorte, Schrittanzahl und Schrittgröße, Pulsschlag, Klang und Sprechtempo der Stimme, Vokabular, Schreibtempo und die Stärke, mit der wir am Touchscreen Tasten drücken. Viele Smartphones begleiten Menschen bis in den Schlaf und registrieren Schlafphasen.

All das ermöglicht, einen digitalen "Fingerabdruck" zu erstellen: sogenannte digitale Phänotypen. Einerseits arbeiten viele Unternehmen daran, von der Erschließung dieser Daten zu profitieren. Ein legitimes Interesse an der Verwendung unseres digitalen Phänotyps hat andererseits die Medizin. Anzeichen von Krankheit äußern sich in Abweichungen von Mustern. Oft sind winzige Änderungen, für uns selbst und unser Umfeld nicht bemerkbar, Vorzeichen einer Erkrankung. Um ein drastisches Beispiel zu geben: Wenn ein Mensch nach einem Schlaganfall stürzt, sich anschließend nicht bewegt und der Puls stark verändert ist, kann die Smartwatch Alarm schlagen.

Erkennung von psychischer Beeinträchtigungen

Depressionen gehören zu einem der Forschungsfelder zur Nutzung digitaler Phänotypologie für Früherkennung und Prävention. Die Uni St. Gallen untersuchte 2016 soziales Verhalten anhand von GPS-Daten, die zeigten, wie oft und wie viele Menschen angerufen, welche Texte ausgetauscht wurden, wie viele Kontakte jemand hatte. Mit 60 Prozent Wahrscheinlichkeit ließen sich dadurch Depressionen vorhersagen – noch nicht überragend hoch, aber sonst wären sie erst bei ihrem Ausbruch, womöglich einem Suizidversuch, erkannt worden.

Digitale Phänotypie sei bei der Erkennung psychischer Beeinträchtigungen wesentlich präziser als derzeit verwendete Interviews oder psychologische Fragebögen, sagt Harvard-Professor Jukka-Pekka Onnela. Er arbeitet an einem Analysemodell für digitale Phänotypisierung, der "Beiwe-Plattform". Diese soll in vier Bereichen Verhaltensmarker für Diagnose und Therapie liefern.

App zur Früherkennung von Parkinson

Eine weitere Anwendung zur frühzeitigen Erkennung von Erkrankungen wurde von Forschern der griechischen Aristoteles-Universität mit Experten in Großbritannien, Portugal und Deutschland entwickelt: die iPrognosis Mobile App zur Früherkennung von Parkinson. Dies ist eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen, die ein Prozent der Bevölkerung über 60 betrifft. Heilung ist derzeit nicht möglich, darum ist frühe Erkennung entscheidend: Dadurch kann der Verlauf positiv beeinflusst werden.

Die App sammelt Daten von Menschen, die sich am Projekt beteiligen, bei denen Parkinson bisher nicht diagnostiziert wurde und die auch nicht davon betroffen sein müssen. Dazu gehören die Stimme bei Telefonaten, die Gleichmäßigkeit, mit der das Handy gehalten wird (Sensoren erkennen Seismografen gleich feinste Bewegungen), das Tempo beim Tippen, die Zahl der Tippfehler und Korrekturen sowie die Druckstärke. Weitere Indikatoren sind die Schrittlänge, die sich bei einer Parkinson-Erkrankung unmerklich verkürzt, der Gesichtsausdruck auf Fotos und der emotionale Ton von Textnachrichten. (Helmut Spudich, 4.4.2020)