Man wird ja wohl noch träumen dürfen. Von einer Welt, die die Kurve kratzt. Von einem Staat, der die Signale hört. Und von uns Menschen, die aus Fehlern lernen. Die Corona-Krise zeigt uns, inmitten all der Tragik, was alles möglich ist, wenn wir nur wollen: eine andere Welt nämlich.

Schon jetzt wundern wir uns schließlich, was alles geht. Egal, wie man zu den Maßnahmen der Bundesregierung zur Eindämmung der Corona-Pandemie steht, ob man sie für überzogen hält – Stichwort Wirtschaftskrise – oder für zu lax – siehe Infektionsrate –, eines sind sie auf jeden Fall: einschneidend. Selten zuvor ließ ein demokratischer Staat uns Bürgerinnen und Bürger seine Macht so unmittelbar spüren wie jetzt, wo man sich schon beim Verweilen auf der Parkbank mit einem Fuß im Kriminal wähnt. Er lässt seine Muskeln spielen und greift stärker in unser Leben ein, als unsere Generation es gewöhnt ist. Wenn sein starker Arm es will, so wird uns vor Augen geführt, stehen alle Räder still. Die Obrigkeit nutzt ihr Gewaltmonopol, um im Namen der Pandemiebekämpfung in den Parks und auf den Straßen für Ordnung zu sorgen. Heilige Kühe werden schneller geschlachtet, als Sportfans "Olympia!" und Wirte "Schanigarten!" rufen können. Und statt des Businessfliegers tut es nun auch die Webcam. Es geht also.

Selten zuvor ließ ein demokratischer Staat uns Bürgerinnen und Bürger seine Macht so unmittelbar spüren wie jetzt.
Foto: APA/ROBERT JÄGER

Weil uns ein Virus bedroht, zieht die Obrigkeit alle Register; erklärt uns, was wir zu tun und was wir zu lassen haben. Die gewählten Politiker, ihr Sprachrohr, sprechen uns direkt an: Was der Bundespräsident, der Kanzler, die Ministerinnen und Minister sagen, ist in Zeiten von Corona und nationalem Schulterschluss Gesetz. Und die meisten halten sich – mehr oder minder klaglos – auch daran.

Sonntagsreden

Demokratische Regierungen, so eine Lehre, können also durchaus unpopuläre – und zeitlich beschränkte – Schritte setzen, ohne eine Rebellion zu riskieren. Wenn es um das größere Ganze geht, nehmen wir in Kauf, dass unser Leben von "denen da oben" durcheinandergeschüttelt wird. Was bisher stets als Argument zur Stelle war, nur ja nicht an den bestehenden Verhältnissen zu rütteln, die Märkte etwa oder das Nulldefizit, muss plötzlich dem Primat der Politik weichen. Auch das geht also.

Wie schön wäre es, ginge unser Staat – ist das Virus erst einmal besiegt – mit der gleichen Vehemenz gegen die anderen Seuchen vor, die zwar genauso unsichtbar, aber mindestens ebenso bedrohlich sind wie das Coronavirus: Ungleichheit etwa, Rassismus oder Klimawandel. Expertinnen und Experten, die jetzt, wo wegen der Pandemie nun einmal der Hut brennt, von der Politik geschätzt und zitiert werden, gibt es auch bei diesen Themen zuhauf. Bisher verhallten ihre Rufe meist ungehört, taugten höchstens für Sonntagsreden – und waren am Montag vergessen. Ob sich das nun, wo wir als Gesellschaft durch eine der schwersten Krisen seit Menschengedenken gehen, ändert, steht in den Sternen. Aber man wird ja wohl noch träumen dürfen. Denn wenn nicht jetzt, wann dann? (Florian Niederndorfer, 4.4.2020)