Bitte trag eine Maske! Das haben mir meine Eltern schon im Jänner gesagt. Eindringlich, manchmal auch ohne "Bitte". Noch Ende Dezember, Anfang Jänner war ich bei den Eltern in Peking, die sind nie ohne Maske aus dem Haus gegangen. Und sie haben mir prophezeit, dass Corona auch nach Europa kommen wird. Ich hab gesagt, sie sollen nicht panisch sein. Sie haben gesagt, ich soll nicht naiv sein.

"Sie haben gesagt, ich soll nicht naiv sein."
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Seit ich zurück bin, hab ich jeden Tag mit meinen Eltern telefoniert. Jeden Tag haben sie mich gefragt, ob Corona bei uns schon losgegangen ist. Sie wollten wissen, ob meine Tochter, ihre Enkeltochter, noch in die Schule gehen kann. Sie haben sich darüber gewundert, dass wir in Europa noch keine Masken tragen. Ich hab mir gedacht, was wollen die. Österreich ist so sauber, eine Idylle, Österreich hat so viel Natur, hab ich mir gedacht. Wahrscheinlich war ich wirklich sehr naiv.

Na klar betonen meine Eltern jetzt, dass sie recht gehabt haben – wieder einmal, sagen sie, wie immer, sagen sie. Das geb ich ungern zu. Ich bin kein Kind mehr, ich bin 38 Jahre alt. Aber ich bin ihr Kind, und deshalb stört es mich ein bisserl, dass ich meinen Eltern recht geben muss. In Europa, auch in Österreich, haben wir Corona massiv unterschätzt. Vor allem ich hab es unterschätzt – obwohl ich so viel Kontakt mit China habe, nicht nur zu meinen Eltern, auch zu vielen Freunden, deren Kinder schon monatelang keine Schule mehr hatten.

Ich wollte hierbleiben

Mein Vater ist 69, meine Mutter ist 67, beide sind in Pension. Noch im Jänner wollte ich meine Eltern unbedingt nach Österreich holen, weil Corona in China so schlimm war. Sie waren mehrmals hier, haben auch auf die Kleine aufgepasst. Doch innerhalb von zwei Monaten hat sich alles umgedreht. Jetzt fragen mich meine Eltern, ob ich wegen Corona nicht lieber zu ihnen nach Peking kommen will. Aber ich wollte hierbleiben. Ich lebe hier, seit ich 15 bin, mit 16 hab ich die Staatsbürgerschaft bekommen. Praktisch von Anfang haben mich alle Susi genannt. Das kommt daher, dass ich damals bei einer Mitspielerin aus Oberösterreich zu Besuch war. Ihre Mutter hat "Liu Jia" nicht aussprechen können. Auf dem Tisch stand ein Susi-Apfelsaft, da hat sie gesagt, für mich bist du jetzt die Susi. Manchmal denk ich mir, es war ein Glück, dass da kein Obi-Apfelsaft gestanden ist.

"Es waren meine fünften Olympischen Spiele für Österreich."
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Als Corona in China ausgebrochen ist, waren viele Asiaten, vor allem Chinesen, auf der ganzen Welt rassistischen Beschimpfungen und Attacken ausgesetzt. Einiges davon hab ich mitgekriegt, vor allem durch Freunde in Nordamerika. Ich selbst hab jetzt keine schlimmen Erfahrungen gemacht. Vielleicht auch, weil mich in Linz und Oberösterreich viele kennen und weil ich mich meistens in gewohnter Umgebung bewege. Vor zwanzig Jahren, als Teenager, bin ich oft angegangen worden. Ich hab mich manchmal nicht getraut, mit der Straßenbahn zum Training zu fahren, weil’s da Jugendliche gab, die mich "Schlitzauge" geschimpft haben.

Das hat auch in China für Aufsehen gesorgt

Bei der olympischen Eröffnungsfeier 2016 in Rio de Janeiro durfte ich die österreichische Fahne tragen. Es waren meine fünften Olympischen Spiele für Österreich. Viele haben sich für mich gefreut. Und das hat auch in China für Aufsehen gesorgt. Noch nie hatte eine Sportlerin die chinesische Fahne getragen, weder bei einer Eröffnungsfeier noch bei einer Schlussfeier. So gesehen hat sich China gleich in Rio ein Beispiel an Österreich genommen. Bei der Schlussfeier wurde erstmals eine Frau fürs Fahnentragen ausgewählt, Tischtennis-Olympiasiegerin Ding Ning.

Für die Olympischen Spiele in Tokio hab ich mich mit der österreichischen Mannschaft qualifiziert. Ich geh davon aus, dass die Qualifikation auch 2021 gilt. Trainieren tu ich momentan nach Lust und Laune. Ich lebe mittlerweile eh nicht von tausend Stunden Training, sondern von meiner Routine. Ich mach jeden Tag Gymnastik und Dehnungsübungen, die Yogamatte räum ich gar nicht mehr weg. Zum Spielen komm ich überhaupt nicht. Aber ich hab gelernt, dass weniger oft mehr sein kann. Ich kann mittlerweile auch ohne schlechtes Gewissen faulenzen. Nur den Kühlschrank mach ich zu oft auf, einfach nur, um zu schauen, was da ist. Also hab ich mir einen großen Zettel hineingeklebt, auf dem steht: "Du bist nicht hungrig, du bist nur gelangweilt" – mit drei Rufzeichen.

Ich bin nicht Messi

"Praktisch von Anfang haben mich alle Susi genannt."
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Ich hab nicht viel Grund zu jammern, meine Welt ist immer noch sehr privilegiert. Und ich bin zwar nicht Messi, ich bin nicht Ronaldo, ich kann nicht wie sie Millionen spenden. Aber ich kann meinen Mitmenschen auch etwas geben, meiner Tochter oder auch meinem Nachbarn, mit dem ich telefoniere. Ich kann sie zum Lachen bringen.

Alles ist möglich, das bestimmt derzeit mein ganzes Denken. Hoffentlich können die Spiele im nächsten Jahr auch wirklich stattfinden. Sicher bin ich mir nicht. Kurz nach dem Corona-Ausbruch in Österreich war ich in einer ORF-Diskussion zu Gast, Mitte März war das. Meine Eltern haben mich gefragt, ob ich verrückt bin, dass ich nach Wien fahre, in ein TV-Studio gehe, in einem Hotel übernachte. Ich hab, meinen Eltern zuliebe, sogar beim ORF nachgefragt, ob ich mit einer Maske kommen kann. Die haben damals gemeint, es wäre schon aus akustischen Gründen besser, wenn ich auf die Maske verzichte. Das ist, wie gesagt, nicht lange her. Und doch war es noch eine ganz andere Zeit. (Fritz Neumann, 4.4.2020)