Das "Kitzloch" hat unverhofft viel Bekanntheit erlangt, weil ein infizierter Barkeeper zahlreiche Personen ansteckte.

Foto: Kitzloch

Am Abend des 10. März war die Stimmung auf den Straßen von Ischgl so ausgelassen wie eh und je. Zwar hatten Stunden zuvor sämtliche Après-Ski-Bars wegen Ansteckungsgefahr auf behördliche Anordnung hin schließen müssen. Aber auf vielen Terrassen wurde weitergemacht und ausgeschenkt", erinnert sich Daniel, der als Mitarbeiter der örtlichen Silvretta-Seilbahnen dort selbst gerne feierte. "Wenn die Polizei vorbeifuhr, jubelten alle und machten sich lustig."

Drei Tage später war alles anders. Bundeskanzler Sebastian Kurz verkündete die Quarantäne für das gesamte Paznauntal, tausende Gäste und Saisonarbeiter reisten überstürzt ab und verbreiteten das Coronavirus so in ganz Europa. Ischgl wurde weltweit zum Synonym für die katastrophalen Fehler im Umgang mit der Corona-Epidemie. Im einstigen "Ballermann der Alpen" selbst kehrte eine Ruhe ein, wie es die 1600-Köpfe-Gemeinde seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt hat. Doch von echter Entspannung ist noch nicht viel zu spüren, die Aufarbeitung hat gerade erst begonnen.

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Die Party in Ischgl ging bis zum Schluss, allerdings nicht in den Aprés-Ski-Lokalen, sondern auf den Terrassen der Bars und Restaurants (Symbolfoto).
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"Es war kurz nach Mittag, als ich ein SMS vom Betriebsleiter erhielt", erinnert sich Daniel an jenen Freitag, den 13. März. Ob er binnen einer Stunde abreisebereit sein könne? Konnte er nicht. Einer seiner Kumpels aus Wien war schneller und schaffte es noch rechtzeitig aus dem Tal. Am Beifahrersitz hatte er eine irische Bekannte, die zum Flughafen Schwechat musste. Was niemand von den beiden wusste: Die Bekannte hatte sich bereits infiziert. Die Irin stieg hochinfektiös am nächsten Tag in den Flieger Richtung Heimat. Daniels Kumpel erwischte es später ebenfalls, "er kämpft heute noch mit Atemnot, Husten und Fieber", weiß Daniel.

Arzt im Dauerstress

Am gleichen Tag erhielt der Kappler Sprengelarzt Florian Jehle einen Anruf: Er sollte eine 44-jährige Patientin aufsuchen, die vor fünf Tagen positiv auf das Coronavirus getestet worden war und über heftige Schmerzen klagte. Sie bräuchte aber nur ein paar Medikamente, hieß es. Wenige Stunden später befand sich die Frau auf Anraten Jehles auf der Intensivstation des Krankenhauses. Für ihn begann gerade erst die "Ausnahmesituation", wie er die vergangenen Wochen nüchtern beschreibt.

Jehle wurde bald bewusst, dass er in dieser Situation auf sich alleine gestellt war. Es fehlte an Schutzausrüstung und Desinfektionsmittel."Von den Standesvertretern oder den Gesundheitskassen kontaktierte mich niemand", schrieb Jehle in einem offenen Brief am Montag, dem 16. März. Im Gegensatz zu den Mobile- Screening-Teams hatte er nicht einmal spezielle Schutzmasken. Viele Patienten wandten sich aber direkt an ihn, nachdem sie bei der überlasteten Ages-Gesundheitshotline stundenlang vergebens gewartet hatten. Jehle war rund um die Uhr erreichbar, betreute so viele Patienten, wie er konnte, wenn möglich übers Telefon.

Aber das ging nicht immer. Er musste hinterbliebene, erkrankte Familienmitglieder von verstorbenen Covid-19 Patienten versorgen, die Anreise zu erkrankten Hüttenwirtinnen mit dem Skidoo absolvieren und zwischendurch einen Mann erstversorgen, dem beim Holzfällen ein Baum auf seinen Kopf gefallen war – Alltag im Ausnahmezustand. Die Häuser im Paznauntal sind über die Hänge verstreut, die Straßen steil und kurvig. Bis zu einer Stunde Fahrzeit muss er für eine Visite teilweise einrechnen. Besonders in den ersten Tagen waren viele Menschen verunsichert, und die Informationslage änderte sich beinahe stündlich. "Allein um darauf reagieren zu können, hätte ich ein eigenes Team gebraucht", sagt Jehle.

Hinzu kamen eine verunsicherte Bevölkerung und ein Mangel an Information. Als auch auf seinen offenen Brief hin keine Reaktion erfolgte, platzte Jehle wenige Tage später der Kragen: In einem ORF-Interview schilderte er die bedrohliche Lage. Die Reaktionen waren rasch und überwiegend positiv: Ein Zahnarzt aus dem Tal lieferte ihm sofort Schutzausrüstung.

Aber nicht alle waren über Jehles Hilferuf erfreut. Kurz vor Mitternacht läutete an diesem Abend sein Telefon: Am Apparat ein ranghoher Tiroler Politiker, der ihn beschuldigte, mit seinen Aussagen die Bevölkerung zu verunsichern. Am nächsten Morgen erreichte ihn ein weiterer, garstiger Anruf aus dem Umfeld der Bezirksbehörde.

Maulkorb für Touristiker

Solche Erfahrungen machen auch andere. Die Ischgl-Berichterstattung stößt vielen im Ort auf, sie sorgen sich, wie sie einen guten Ruf für die kommenden Jahre wiedererlangen können. Bereits Mitte März verhängte die Gemeinde einen strengen Maulkorb für alle Tourismusbetriebe. Heute betont man seitens des Bürgermeisters Werner Kurz, dies geschah auch, damit sich die Vermieter "mit aller Kraft und vollständig um die unter Quarantäne stehenden Gäste und MitarbeiterInnen kümmern" konnten. Das Angebot eines direkten Gesprächs mit dem STANDARD schlug er aus. Alles nur mehr schriftlich.

Neben Virus, Land und Bund sind längst auch die Medien zu einem gemeinsamen Gegner geworden. Der Ort hält gegen sie zusammen. Doch einer, der sich dem nicht unterordnet, ist Bernhard Zangerl, der Wirt gerade jenes Après-Ski-Lokals, das in ganz Europa zweifelhafte Bekanntheit erlangte, weil bei einem dortigen Barkeeper einer der ersten bestätigten Infektionen aufgetreten ist: das "Kitzloch". Der 25-jährige Junior-Chef kümmert sich im Winter um den Betrieb, im Sommer hilft er im Hotel oder in den Restaurants seiner Familie.

Zangerl weiß, dass neben Ischgl sein "Kitzloch" als großer Verursacher in der Kritik steht. Aber gerade deshalb habe man im Familienbund beschlossen, auf möglichst alle Anfragen zum "Kitzloch" zu antworten und klaren Tisch zu machen – ganz ohne PR-Assistenten oder Ähnliches. "Am ehrlichsten ist es, wenn’s wer von der Familie macht." Ständig läutet das Handy bei ihm, weil eine Medienanfrage die nächste jagt. Zwei solche Anrufe kommen herein, während der STANDARD mit ihm spricht.

Und er redet offen über diese Tage im März. Habe er Fehler gemacht, als die Infektion des Barkeepers am 7. März bekannt wurde? Man habe natürlich kurz gegrübelt, sich dann aber auf die mittlerweile berühmt-berüchtigte Empfehlung der Landessanitätsdirektion verlassen, wonach eine Ansteckung in einer Bar unwahrscheinlich sei. Er ließ alles putzen und desinfizieren*, tauschte das Personal aus und machte noch zwei Tage weiter, ehe man das "Kitzloch" schloss. Dass diese Empfehlung des Landes "ein blöder Fehler" war, sei ihm mittlerweile auch bewusst. Heute würde er vieles anders machen. Und: "Mir tut es extrem leid um jeden, der sich bei uns angesteckt hat", entschuldigt sich Zangerl. Auf wen aber hören in Krisenzeiten, wenn nicht auf Experten, fragt er?

Auch in der Stellungnahme des Bürgermeisters heißt es: "Dass zahlreiche Menschen in Ischgl infiziert wurden, bedauern wir zutiefst. Auch wenn wir nach Anweisung der Landes- und Bundesbehörden alle Maßnahmen umgehend umgesetzt haben, müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass Infektionen schon stattgefunden hatten." Er wisse auch, dass sich einige nicht ausreichend informiert fühlten. "Es kann in der Hektik der letzten Tage und Wochen passieren, dass manche das Gefühl haben, mehr Informationen benötigt zu haben", heißt es.

Schwierige Quarantäne

Für "Kitzloch"-Wirt Zangerl ist das Schlimmste vorerst vorbei, seine Liebe zum Beruf sei ihm geblieben. "Ich bin eh ausgeruht", sagt er wenig überzeugend. Die vergangenen Wochen habe er viel Zeit vor seinem Laptop in den eigenen vier Wänden verbracht. "Ich bin von einer Quarantäne in die nächste", beschreibt er seine Lage. Als das positive Testergebnis des infizierten Barkeepers kam, musste er wegen des engen Kontakts zu ihm in die persönliche Isolation. Just als diese ablief, wurde die strenge Quarantäne für das gesamte Dorf bis nach Ostern verlängert.

Auch der Seilbahn-Mitarbeiter Daniel verbrachte die meiste Zeit seit der Quarantäne in seinem Personalzimmer. Die allermeisten halten sich an die neuen Benimmregeln, und die Grundversorgung mit Nahrungsmitteln funktioniert sowieso tadellos.

Kein Wunder, ist die kleine Tiroler Alpen-Gemeinde zu dieser Zeit doch eigentlich auf eine zehnfache Auslastung ausgelegt. Er werde gut versorgt, betont der deutsche Saisonarbeiter. Aber die Einhaltung der Quarantänevorschriften gestaltete sich dennoch schwierig. Man teilte sich eine Küche. Jeden zweiten Tag machten neue Gerüchte über Infizierte die Runde. "Ich dachte oft ,Fuck, mit dem hab ich doch gestern noch hier gesessen und gequatscht!’", erzählt Daniel.

Die Erfahrungen der zahlreichen Saisonarbeiter während der Quarantäne sind sehr unterschiedlich. Eine Slowakin, von der dieses Bild stammt, schwärmte geradezu von den zwei Wochen "Extraurlaub".
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Das Ende seiner Isolation kam dann plötzlich. Am Abend des 29. März hieß es, dass tags darauf Busse nach Deutschland fahren würden. Treffpunkt 7.30 Uhr bei der Liftkassa. Daniel gab den Schlüssel zu seinem Personalzimmer ab und unterschrieb, dass er "symptomfrei" sei – sonst wäre die Ausreise versagt worden. Die deutsche Botschaft hatte die Formalitäten mit den österreichischen Behörden ausgehandelt. Man händigte Daniel zum Abschied ein Kuvert aus, das er im Bus öffnete.

Darin fand er – im Gegensatz zu manch anderem, der noch auf sein Geld wartet – die letzten Lohnabrechnungen und die Information, dass sein befristetes Arbeitsverhältnis vorzeitig aufgelöst werde. Knapp 24 Stunden später war er zu Hause. Die Arbeiterkammer Tirol bietet Arbeitnehmern wie Daniel nun kostenlose Rechtshilfe, um gegen die vorzeitige Auflösung des Dienstverhältnisses vorzugehen. Die will er annehmen. Zeit, sich darum zu kümmern, hat er nun genug: "Ich bin noch mal für zwei Wochen in Heimquarantäne, weil ich nicht weiß, ob ich nicht noch einmal infiziert bin."

Die nächste Saison kommt

Mittlerweile ist es auch für den Arzt Jehle ruhiger geworden. Die Zahl der Neuinfizierten gehe merkbar zurück, "der Gipfel könnte hier schon überschritten sein", sagt er vorsichtig zuversichtlich. "Jetzt können wir bald wieder nach vorne schauen." Ende März konnte sich Jehle das erste Mal seit der verordneten Quarantäne einen freien Tag nehmen.

Die Abreise deutscher Saisonarbeiter am vergangenen Montag.
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Auch Zangerl macht sich in den ruhigeren Stunden Gedanken über die nächste Wintersaison. Hoffentlich sei der Virus bis dahin unter Kontrolle, dann werden auch trotz des Imageschadens die treuen Stammgäste wiederkommen. Von ihnen habe er nur Zuspruch erhalten. Geraunzt, gedroht und geschimpft hätten meist "Leute, die normal eh keine Ischgl-Touristen sind", vor allem Städter aus Innsbruck oder Wien. Und jetzt folge ohnehin der Sommer, in dem man nach den "sechs Monaten Ausnahmezustand" des Winters wieder Energie tanken könne.

Inwiefern sich der ganze Trubel auf die nächste Wintersaison auswirken wird, könne man wohl erst in einem Jahr sagen, glaubt Bernhard Zangerl. Er aber steht zu seinem Dorf: "I lieb Ischgl, so wie’s isch." (Steffen Arora, Laurin Lorenz, Fabian Sommavilla, 4.4.2020)