Zwei Tage lang erzielte Hüseyin Ünal den Umsatz seines Lebens. Zu den Gewinnern der Covid-19-Krise zählt sich der Lebensmittelhändler nicht. Die Lage ändere sich für ihn fast stündlich, sagt er. Corona werde in den Köpfen der Menschen lange nachwirken. Er selbst kam vor mehr als 40 Jahren von der Türkei nach Wien. Als Österreicher wird er immer noch nicht akzeptiert.

Kleine Händler steigen gegen Diskonter auf die Barrikaden, der Streit um Non-Food treibt eine tiefe Kluft in den Handel. Hüseyin Ünal versteht beide Seiten.
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Kunden hamstern Lebensmittel, die Gastronomie ist geschlossen. Wie stark profitieren Supermärkte von der Corona-Krise?

Ünal: Ich wünsche mir die Zeit ohne Corona zurück. Hamsterkäufe gab es nur an wenigen Tagen. Unsere Kosten sind seither gestiegen, wir müssen mehr Personal bezahlen, es wurde sehr schwer, Frächter zu finden, und der Güterverkehr leidet. Unser Umsatz mit der Gastronomie brach völlig weg. Wir verkaufen auch keine Non-Food-Produkte wie andere, sondern Grundnahrungsmittel. Hier sind die Margen weiterhin gering.

STANDARD: Kleine Einzelhändler, die schließen mussten, steigen auf die Barrikaden, da große Lebensmittelketten bisher auch Non-Food offensiv bewarben und verkauften. Auf welcher Seite stehen Sie?

Ünal: Ich verstehe beide. Die Trennung des Sortiments in hunderten Filialen ist schwierig. Fraglich ist auch, wie die Kunden darauf reagieren. Ich finde jedoch, Händler, die offen halten dürfen, sollten die Situation nicht ausnutzen und sich lieber auf die Grundversorgung konzentrieren.

STANDARD: Wie geht es Ihnen mit den Atemschutzmasken?

Ünal: Unsere Verkaufsflächen fallen teils unter die Grenze von 400 Quadratmetern. Wir führen Masken dennoch überall ein. Die Situation änderte sich zuletzt beinahe stündlich, es ist eine Herausforderung, aber wir machen sie mit.

Hamsterkäufe gab es nur an wenigen Tagen. Gestiegen sind seither für Lebensmittelketten wie Etsan vor allem die Kosten.

STANDARD: Was wird die Krise mit den Menschen langfristig machen?

Ünal: Ich glaube nicht, dass die Leute sie schnell vergessen werden. Es wird vieles nicht mehr so sein wie früher.

STANDARD: Sie kamen vor 43 Jahren aus einem kleinen türkischen Dorf nach Wien. Heute haben Sie in Österreich 300 Mitarbeiter und setzen 100 Millionen Euro um. Wie fassten Sie als Unternehmer Fuß?

Ünal: Ich kam mit 17 nach Europa, nach Holland zu meinem Bruder. Mein Vater war Bauer und Viehhändler. Ein harter Mann. Ich habe nach der Schule schwer für ihn gearbeitet. Freizeit hatte ich keine, ich wollte nur noch weg. Doch das Leben in Holland langweilte mich. Mein Bruder gab mir 11.000 holländische Gulden, damit sich unser Vater einen zweiten Traktor kauft – also noch mehr Arbeit für mich daheim. Der Weg zurück in die Türkei mit dem Zug führte über Wien. Ich stieg in Wien aus – blieb und behielt alles Geld, sehr zum Ärger des Vaters.

STANDARD: Wovon lebten Sie? Das Geld für den neuen Traktor wird ja nicht ewig gereicht haben ...

Ünal: Ich hatte zwei Jahre weder Arbeitsgenehmigung noch Visum. Ein Kärntner Landwirt verhalf mir zur Arbeitsgenehmigung. Ich arbeitete dafür ein Jahr für ihn für Kost und Logis, später am Bau als Lkw-Fahrer, ehe ich mich mit Importen von Lebensmitteln aus der Türkei selbstständig machte. Ich wollte meinem Vater, der auch in Österreich einen guten Namen hatte, beweisen, dass ich was aufbauen kann, dass auch ich Erfolg haben kann. Und er hatte später durchaus seine Freude daran. Den zweiten Traktor musste er sich jedoch von anderem Geld kaufen.

Groß geworden ist Hüseyin Ünals Macro Group mit Halal-Fleisch. Heute setzen seine Betriebe in Österreich knapp 100 Millionen Euro um.

STANDARD: Der Arbeitsdruck Ihres Vaters trieb Sie von zu Hause weg?

Ünal: Ich dachte, in Wien wäre alles viel leichter. Aber ich konnte die Sprache nicht, lebte mit sechs Leuten in einem Zimmer und arbeitete am Bau. Die Küche war im selben Zimmer. Das WC am Gang teilten wir uns mit drei Familien. Dusche gab es keine. Einmal in der Woche gingen wir zu den Münz-Duschkabinen am Südbahnhof. In der Türkei hatte ich in einem Haus mit einer kleinen Dusche in jedem Zimmer gelebt. Europa war ein Schock für mich. Daheim fing ich um acht, neun zu arbeiten an, in Wien oft um Mitternacht. Hätte ich für den Vater so viel gearbeitet, wie ich es hier in Österreich tat, ich wäre sein liebstes Kind geworden.

STANDARD: Wie halten Sie es mit Ihren eigenen Kindern?

Ünal: Ich habe zwei Töchter und vier Söhne. Sie haben meine Gene, Gott sei Dank. Jeder soll in der Firma selbstständig und freiwillig arbeiten dürfen. Ich weiß, sie geben ihr Bestes. Schränkt man sie ein, laufen sie weg, so wie ich es tat. Ich versuche, meine Probleme von ihnen fernzuhalten. Sie sollen es besser als ich haben, mit weniger Stress, mehr Zeit für ihre Familie. Ich war in 30 Jahren nur eine Woche auf Urlaub. Jetzt sind meine Frau und ich 60, großen Spaß am Reisen hat man da nicht mehr.

STANDARD: Etsan heißt übersetzt Fleischindustrie. Groß geworden ist Ihr Betrieb mit Halal-Fleisch.

Ünal: Meine Kunden wollten Halal-Fleisch, es gab dieses damals in Österreich nicht. Ich versuchte daher, es aus Osteuropa importieren. Man wollte mich nicht, obwohl ich dafür mehr bezahlte als andere. Ich versuchte, Lebendtiere über die Grenze zu holen, aber Schafzüchter demonstrierten gegen mich. Zwischenhändler wollten mich aus dem Markt drängen. Aber ich ließ nicht locker und ging hohe finanzielle Risiken ein. Seit dem EU-Beitritt kaufen wir dafür Lammfleisch aus England und Rind aus Österreich.

Hüseyin Ünal: "Ich bin Österreicher, schaffe hier Jobs, zahle hier Steuern und liebe dieses Land. Aber für Politiker und Geschäftsleute bleibe ich Türke."
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Sie führen 31 Supermärkte. Lassen einem Branchenriesen wie Spar, Rewe und Hofer überhaupt Platz?

Ünal: Wir können weder mit ihnen noch mit Diskontern mit gleichen Produkten konkurrieren. Wir führen ein anderes Sortiment, sind in einer Nische. Unsere Stärken sind frisches Halal-Fleisch, Obst und Gemüse. Große Lebensmittelketten probierten es immer wieder mit Halal, aber es passt nicht zu ihnen.

STANDARD: Sie beliefern auch unzählige Nahversorger. Erleben Sie eine Renaissance der Greißler?

Ünal: Der Lebensmittelhandel hat sich stark konzentriert, aber kleine Nahversorger ums Eck bleiben bestehen. Ich gehen davon aus, dass sie künftig wieder mehr werden. Vor allem Spezialisten, die einige Zeit als ausgestorben galten, leben neu auf. Einkaufsgewohnheiten ändern sich, Märkte ändern sich, die jüngere Generation will wieder selbstständiger werden.

STANDARD: Wollen Sie mit Ihrer Handelskette weiter expandieren?

Ünal: Wien ist bis auf zwei, drei Bezirke gut abgedeckt. Wir bereiten nun den Schritt nach Deutschland vor. Es gibt dort für uns aufgrund größerer Städte mehr Potenzial als in Österreich. Wir hätten zwar in Vorarlberg durchaus große Kunden, aber Deutschland ist näher.

STANDARD: Etsan bedient primär Wiener Außenbezirke. Der Schritt in die Innenstadt reizt Sie nicht?

Ünal: Wir probieren es gerade mit einer Filiale in der Burggasse Ecke Neubaugasse, die wir neu eröffneten. Eine hippe Gegend. Wir werden sehen, wie es sich entwickelt.

STANDARD: Sind Sie ein Freund der Sonntagsöffnung? Viele kleine Nahversorger nehmen es mit dem Verbot ja nicht so genau,

Ünal: Jeder, der hier lebt, sollte die Gesetze einhalten. Allerdings haben viele Nachbarländer sonntags geöffnet. Und auch innerhalb Österreich herrscht wenig Gerechtigkeit: Billa, Merkur und Spar verkaufen an Tankstellen sieben Tage die Woche. Wenn diese es dürfen, sollte es auch anderen erlaubt werden. Ich hätte nichts dagegen, wenn einzelne kleine Geschäfte offenhielten. Wir selbst wollen am Sonntag aber Ruhe. Er kostet Geld, und man braucht Zeit für die Familie.

STANDARD: FPÖ- und ÖVP-Politiker versperrten in Wels jüngst einem türkischen Supermarktbetreiber den Weg in ihre Stadt. Wie konfliktbeladen ist das Nebeneinander von Würstel und Döner?

Ünal: Wir kennen das aus Wien. Vermieter, Wohnungseigentümer teilten uns mit, keine Türken zu wollen. Das hörten wir immer wieder. Meine Strategie ist: dann erst recht. Weil wir beweisen können, dass ihre Ängste unbegründet sind. Jene, die einst nicht an uns vermieten wollten, sind heute froh, uns zu haben. Weil wir pünktlich zahlen. Ohne Migranten stünde die Hälfte der Wiener Geschäfte leer.

Hüseyin Ünal versorgt als Großhändler hunderte Nahversorger mit Lebensmittel: "Ohne Migranten stünde die Hälfte der Geschäfte in Wien leer."
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Mehr als eine Million Menschen, primär mit Migrationshintergrund, haben ihren Lebens- und Arbeitsmittelpunkt in Österreich, dürfen aber wegen der strenger Gesetzeslage nicht wählen. Halten Sie das für richtig?

Ünal: Jeder Mensch soll wählen dürfen, jeder Mensch muss wählen. Ich kenne Leute, die seit über 35 Jahren in Österreich leben und wählen wollen, aber nicht dürfen.

STANDARD: Fühlen Sie sich hierzulande akzeptiert?

Ünal: Ich lebe seit 1977 in Österreich, ich bin Österreicher, ich liebe dieses Land. Das ist meine Heimat. Aber für viele Politiker und Geschäftsleute bin ich ein türkischer Unternehmer. Meine Firma ist in Österreich gegründet worden, ich schaffe hier Arbeitsplätze, ich zahle hier Steuern. In der Türkei bin ich ein Fremder. Ich wollte etwa in einen Rinderzuchtverband, wollte Rinder in die Türkei exportieren. Der Verband ließ mich wissen, dass man diese Geschäfte nur mit Österreichern macht. Was soll das? Ich habe eine österreichische Firma. Meine Kinder sind hier geboren, haben hier studiert, hier ihren Doktor gemacht. Sie verstehen nichts von türkischer Kultur. Aber auch sie nennt man Türken. Ich kann die Menschen nicht dazu zwingen, uns als Österreicher zu akzeptieren. Ich will mich auch nicht in die Politik einmischen, aber der Rassismus hat im Alltag zugenommen. Es liegt an der Erstarkung der Rechtsparteien in Europa, sie sind Multiplikatoren.

STANDARD: Wie erleben Sie die aktuelle Flüchtlingspolitik? Sollte Österreich Familien aus den Flüchtlingslagern an der türkisch-griechischen Grenze aufnehmen?

Ünal: Es geht um Menschen, deren Häuser bombardiert wurden, die versuchen, ihr Leben zu retten. Ich bin kein Politiker. Aber unabhängig von Nationalität oder Religion muss man helfen, wenn wer in Not ist. Jedem von uns kann etwas passieren. Wenn man nicht hilft, wofür lebt man dann? (Verena Kainrath, 5.4.2020)