Hinterließ mehrere Schriften und eine Unzahl von Notizen zum Forschungsgegenstand Kafka: Walter Benjamin.

Foto: Akademie der Künste, Berlin

Es hat nicht an wohlmeinenden Versuchen gefehlt, die rätselhafte Welt Franz Kafkas in den Bürostuben kleiner, hilfloser Angestellter zu verankern. Was eher metaphysisch gesonnenen Gelehrten als Ringen um göttliche Gnade erscheint, wirkt auf nüchterner disponierte Geister wie ein Ansporn, manifeste Kritik zu üben an den Auswüchsen des – in den 1920er-Jahren "modernen" – Kapitalismus.

Vollends Bertolt Brecht hätte aus Kafkas Gleichnissen am liebsten etwas "Brauchbares" gemacht: "Die Bilder sind ja gut. Der Rest ist Geheimniskrämerei", beschied der jeder Dunkelheit abholde BB seinem darob gewiss indignierten Gesprächspartner Walter Benjamin 1934 im Exil.

Wie so oft meint man, das jüdische Genie Benjamin stehe als getadelter Schüler vor einem übermächtigen Lehrmeister. Und doch ist das genaue Gegenteil richtig. Zwei längere Texte Benjamins (1892-1940) zu Wesen und Wirken Kafkas sind, nebst einer Flut von Notizen, bis heute überliefert. Was er in den Schriften des Prager Versicherungsangestellten aufspürt, ist verblüffend. Benjamin erkennt sofort, dass die Art des von Kafka mit aller Sorgfalt inszenierten Gerichtswesens in die Vorwelt zurückragt. Dieses vorgeschichtliche Zeitalter übt eine Zwangsherrschaft über uns Heutige aus, indem es sich auf ein Recht stützt, das zwar geschrieben steht, von den Betroffenen aber ungelesen bleibt.

Unergründliche Kern

Die Frage, was der Mensch in seiner vermeintlichen Unschuld denn überhaupt zu sühnen hätte, verfehlt den unergründlichen Kern der Schöpfung. Seinem Freund Max Brod gegenüber soll Kafka immerhin geäußert haben: "Unsere Welt ist nur eine schlechte Laune Gottes, ein schlechter Tag." Solcher Einsicht gemäß versteht sich für den wahrhaft talmudischen Kafka-Leser Benjamin auch die folgende Ableitung wie von selbst: Es gebe Hoffnung genug, unendlich viel Hoffnung – nur leider nicht für uns.

Der Text "Franz Kafka – Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages" (1934) ist auch deshalb epochal, weil er jeden Versuch, dem Autor von "Das Schloss" oder "Der Process" (sic!) ein religionsphilosophisches Konzept unterzuschieben, rigoros vermeidet. Eher schon mengt sich Benjamin mit dem gefassten Staunen des Gestaltforschers in die Welt von Kafkas Figuren.

Er bemerkt halb ausgeartete Kreaturen, Kreuzungen und Gespinstwesen wie die Zwirnspule Odradek auf ihren kleinen, abgespreizten Füßchen. Er konstatiert das Versagen des Mythos vor diesem halb sagenhaften Pandämonium. Kafka schrieb Märchen für Dialektiker. Bei ihm ist Odysseus den Lockungen der Sirenen auch deshalb nicht erlegen, ganz einfach weil sie geschwiegen haben.

Berühmtes "Naturtheater"

Gebärden soll Franz Kafka gesammelt haben, seltsame Gesten, die zu einem unerforschlichen Theater zusammentreten, eben dem berühmten "Naturtheater von Oklahoma". Mit dessen Ausrufung beschloss Kafka bekanntlich seinen "Amerika"-Roman.

Schauspielerische Eignung spielt in dieser Bühneneinrichtung nicht die geringste Rolle. Für ihre Bewerber bildet sie eher die letzte Zuflucht, einen Un- oder Nicht-Ort, der die ganze Vorläufigkeit menschlicher Existenz verheißt. Vielleicht krankt die Welt auch nur am Vergessen derer, die sie bewohnen, ohne in ihr einen Unterschlupf zu finden. In der behutsamen Wiederaneignung von Gesten und Gegenständen bestand auch Walter Benjamins lebenslange Aufgabe, sich die Welt – gegen jede Evidenz – als von der Beherrschung durch Zwang und Entfremdung hinlänglich befreite zu denken.

Den Mühseligen wie den Beladenen gehört beider, Kafkas wie Benjamins, alarmiertes Interesse. Buckligen, die die Last der Entstellung am Rücken tragen, winkt keine andere Erlösung als durch einen Messias. Diesen muss man sich vielleicht gar nicht als umstürzendes Wesen vorstellen: Vielleicht wolle der die gebrechlich eingerichtete Welt gar nicht mit Gewalt ums Ganze verändern, sondern sie "nur um ein Geringes zurechtstellen" (Benjamin).

In seiner zweiten kanonischen Schrift über Kafka, dem Rundfunkvortrag "Franz Kafka: Beim Bau der Chinesischen Mauer", hat der Autor das Wesen des von ihm Untersuchten ein für alle Mal festgelegt: Kafka habe "sein Leben darüber nachgegrübelt, wie er aussähe, ohne je davon zu erfahren, dass es Spiegel gibt." Benjamin war ihm ein solcher Spiegel. (Ronald Pohl, 7.4.2020)