Schweinisch wie immer: Till Lindemann (hier ein Videoausschnitt von 2015).

Foto: Universal

Im Februar hat Rammstein-Sänger Till Lindemann mit seinem Soloprojekt Lindemann im Rahmen der Vermarktung seines aktuellen Albums "F + M" ein Video zu seinem Song "Platz 1" veröffentlicht: "Alle Frauen, alles meins!". Das laut der feministischen russischen Telegram-Plattform "Female Power" in einem Luxushotel in St. Petersburg mit russischen Frauen gedrehte Video ist aufgrund seiner Sexszenen unzensuriert nur auf einem deutschen Pornokanal zu sehen, Stichwort "Till the end".

Die Herstellung von pornografischen Werken ist in Russland allerdings streng verboten. Der in Russland ungemein populäre Lindemann brachte mit seiner spekulativen Provokation daraufhin Nutzer von frauenverachtenden russischen Netzwerken wie "Männlicher Staat" offensichtlich dazu, die Identität der im Video auftretenden Frauen mittels Gesichtserkennung und deren Instagram-Profilen preiszugeben, manchmal inklusive Angabe der Privatadressen.

Schweigen im Blätterwald

Die Frauen – auch jene, die im Video auftauchen, ohne an pornografischen Handlungen beteiligt zu sein, allerdings offenbar auch ohne über die sonst geplanten Inhalte des Clips informiert worden zu sein – erhielten daraufhin hunderte Beleidigungen. Härter noch, sie waren auch mit der Ankündigung von Säureattentaten, Vergewaltigungs- und sogar Todesdrohungen konfrontiert. Mittlerweile haben die meisten Frauen deshalb ihre Social-Media-Profile gelöscht. Lindemann schweigt dazu.

Lindemann Official

Das große Schweigen herrschte diesbezüglich auch im Blätterwald. Dafür ist nun die Aufregung bezüglich eines Gedichts von Lindemann umso größer. Anfang März erschien beim renommierten Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch ein neuer Band des Nebenerwerbslyrikers Till Lindemann. Er trägt den Titel "100 Gedichte" und wurde immerhin von Alexander Gorkow, einem führenden Redakteur der "Süddeutschen Zeitung", herausgegeben.

Provokation als Geschäftsmodell

Darin umkreist Deutschlands führender Brachialdichter mit seinem berühmten teutonisch-rollenden Rrr unter dem Schutzschirm einer dunklen deutschen Romantik in Form von Balladen, des Volkslieds und des Abzählreims seine großen Lebensthemen. Sie lauten laut Pressewaschzettel: "Die Natur. Der Körper. Die Einsamkeit. Die Gewalt. Die Liebe. Das Böse. Die Tiere. Der Schmerz. Die Schönheit. Die Sprache. Der Tod. Der Sex …"

Nichts Neues unter der Sonne also von einem Mann, der mit Rammstein seit gut einem Vierteljahrhundert die Provokation zum Geschäftsmodell gemacht hat und abseits von Sadomaso, Kannibalismus, Flirts mit faschistischer Ästhetik – und zwischendurch einfach nur reiner Gewalt, Blut und Irrsinn – traditionell wenig auslässt. Man erinnere sich an Songs wie "Mein Teil" (über den "Kannibalen von Rothenburg"), an "Ausländer" oder zuletzt "Deutschland".

Meister des Wickelmachens

Im Rahmen seiner musikalischen Arbeit für eine Bühnenfassung des Märchens "Hänsel und Gretel" 2018 im Hamburger Thalia-Theater, die auch Eingang in sein Soloalbum "F + M" fand, geht es einmal mehr nicht nur darum, dass Lindemann als böse Latexhexe mit dem Fleischgewehr um- und der Menschenfresserei nachgeht. Das als Nebenstudie entstandene und in "100 Gedichte" veröffentlichte Poem "Wenn du schläfst" sorgt nun in Social Media mit einmonatiger Verspätung auch für einen Shitstorm gegenüber einem diesbezüglich bestens geeichten Meister des Wickelmachens.

Darin geht es um die Freuden des Fleischlichen: "Ich könnte dich vernaschen/ Du riechst und schmeckst so wunderbar/ Ach, ich könnt dich fressen/ Es wär nur schade/ Bist dann nicht mehr da."

Es geht allerdings auch um Vergewaltigungsfantasien: "Ich schlafe gerne mit dir, wenn du schläfst/ Wenn du dich überhaupt nicht regst/ Mund ist offen, Augen zu. Der ganze Körper ist in Ruhe/ Kann dich überall anfassen. Schlaf gerne mit dir, wenn du träumst/ Und genau so soll das sein (so soll das sein, so macht es Spaß)/ Etwas Rohypnol im Wein (etwas Rohypnol ins Glas)/ Kannst dich gar nicht mehr bewegen. Und du schläfst, es ist ein Segen."

Mit dem Autoren-Ich Gassi gehen

Lindemann schweigt dazu ebenso wie zu den skandalösen Folgen seines Pornovideos in Russland. Der Verlag Kiepenheuer & Witsch wird richtigerweise nicht müde zu betonen, dass es sich bei dem Gedicht weder um eine Verherrlichung von sexualisierter Gewalt noch um die tatsächliche Meinung von Till Lindemann handelt. Dieser führe nur sein Autoren-Ich Gassi. Er habe den Text eher als Demaskierung toxischer Männlichkeit angelegt.

Das mag im Vergleich zu manchen deutschen Rappern, die gegenüber ihrer pubertären männlichen Zielgruppe in zahllosen frauenverachtenden Texten mindestens ebenso schwere Geschütze auffahren, richtig sein. Das muss man nicht ernst nehmen. Läuft auf RTL, nicht auf Arte. Und im Gegensatz zu den Ghettos von Offenbach und Berlin-Marzahn wird bei Lindemann im tiefen deutschen Wald wahrscheinlich auch eine höhere sittliche Festigung des Publikums unterstellt.

In die #MeToo-Debatte grätschen

Allerdings verwundert die Tatsache doch erheblich, dass man unter Berufung auf läppische "U-Kultur" versus hehre "Hochkultur" (meine Güte!) ausgerechnet bei einem angesehenen deutschen Verlag mit einem Gedicht als unguided missile in die #MeToo-Debatte grätscht.

Geschäftlich gesehen zahlt sich diese unerwartete Werbung für einen Lyrikband jedenfalls aus. In einem weiteren Gedicht namens "Toilette" macht sich bei Lindemann eine Frau Sorgen, weil ihr Mann einen öffentlichen Abort benutzt. Schließen wir diesbezüglich mit einer guten alten Aufforderung. Gehst du, bitte?! Na also, geht doch!

P.S.: Ende März war Till Lindemann übrigens in ein Berliner Krankenhaus eingeliefert worden. Er musste eine Nacht auf der Intensivstation verbringen. Ein Test wegen Corona-Virusverdacht verlief negativ. Nähere Gründe für seinen Aufenthalt in Pflege sind bisher nicht bekannt. (Christian Schachinger, 6.4.2020)