Gewerkschafter laufen Sturm gegen die Ausnahmen von der erlaubten Freistellung, etwa beim Handel.

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"Das ist der Super-GAU. Wozu der ganze Zirkus, wenn bei den Handelsangestellten ohnehin alles egal ist?" Anita Palkovich, Gewerkschafterin der GPA-djp, nennt die Regeln rund um Coronavirus-Hochrisikogruppen skandalös.

Der Lebensmittelhandel gilt wie die Pflege und die Kinderbetreuung als systemrelevant. Für Mitarbeiter aller drei Sparten gilt daher: Sie haben bei schweren Vorerkrankungen, Immunschwäche oder Schwangerschaft keine Chance auf eine Freistellung vom Job bei fortlaufender Bezahlung. Es sei denn, der Arbeitgeber räumt ihnen dies aus freien Stücken ein. Michaela Guglberger von der Gewerkschaft Vida nennt die Regelung eine Frechheit. Sie hätte für Pfleger und Betreuer gemacht gehört, stattdessen seien nun genau jene davon ausgenommen, die sie am stärksten gebraucht hätten. "Es ist die völlige Fehlinterpretation eines Gesetzes."

Klärungsbedarf

Abgesehen vom lauten Unmut herrscht im Hinblick auf diese Freistellungsverordnung auch noch viel Unklarheit: Grundsätzlich ist es ab jetzt erlaubt, Risikogruppen bei voller Entgeltfortzahlung bis zum 30. April freizustellen (bei Bedarf sogar bis Ende Dezember), wenn Homeoffice oder bestmöglicher Schutz am Arbeitsplatz nicht gewährleistet werden können. Entgelt und Sozialversicherungsbeiträge der Freigestellten werden vom Staat übernommen. Ausgenommen sind von dieser Verordnung Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der kritischen Infrastruktur. Vorgesehen für eine Freistellung ist ein mehrstufiger Weg: Die Krankenversicherungsträger informieren Dienstnehmer über ihre Zugehörigkeit zur Risikogruppe. Dann haben die Betroffenen ihren Haus- oder Facharzt zu kontaktieren, der eine Bestätigung ausstellt, welche wiederum als Ticket für eine Freistellung gilt.

Karolin Andréewitch, Arbeitsrechtsexpertin bei Eisenberger & Herzog, sieht eine Fülle von Klärungsbedarf: Was sind die genauen Kriterien für die Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe? Die Ausnahme bestimmter Branchen sieht Andréewitch verfassungsrechtlich problematisch allerdings gesetzlich aktuell gedeckt: "Die Ausnahme der kritischen Infrastruktur ist sachlich gerechtfertigt und zulässig." Wichtig sei aber, dass die Arbeitgeber bereits aufgrund ihrer Fürsorgepflicht Risikogruppen ohnedies besonders schützen müssen.

"Unhaltbar"

Eine Differenzierung nach Berufsgruppen sei weder nachvollziehbar noch haltbar, sagt Gewerkschafterin Palkovich. Zumal Arbeitnehmer gerade im Handel und bei der Betreuung von Kindern oder Pflegebedürftigen täglich vielen sozialen Kontakten ausgeliefert seien. Eine Gefahrenzulage gebe es für sie im Gegensatz zu den Sozialberufen auch nicht. Die von den Supermärkten an sie ausgeschütteten Prämien erwiesen sich letztlich als Einkaufsgutscheine für das eigene Unternehmen.

Es sei inakzeptabel, dass Beschäftigte in systemrelevanten Bereichen völlig davon ausgenommen seien, sagt Arbeiterkammer-Präsidentin Renate Anderl. Die Regierung müsse zudem klären, wie damit umgegangen werde, wenn Beschäftigte mit Risikopatienten zusammenleben.

Rewe-Sprecherin Ines Schurin versichert, man suche individuelle, arbeitnehmerfreundliche Lösungen. Schwangere etwa seien bei Rewe alle frühzeitig von der Arbeit befreit worden. Lidl verweist auf die Schwierigkeit der genauen Definition von Risikogruppen. Man bemühe sich aber, sie keinem oder wenig Kundenkontakt auszusetzen. Auch Lidl betont, dass keine schwangere Frau in den Filialen arbeiten müsse. (Verena Kainrath, Karin Bauer, 6.4.2020)