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Streit geht in alle Richtungen: zwischen Geschwistern, zwischen Eltern und Kindern, zwischen Ehepartnern wegen der Kinder. Familientherapie kann schlichtend wirken.

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Astrid Just ist Familientherapeutin in Wien. Derzeit betreut sie einige ihrer Klienten online.

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In der Corona-Krise hören familiäre Probleme nicht auf. Im Gegenteil, meistens verstärken sie sich sogar noch. Die Psychotherapeutin Astrid Just hält ihre Therapiestunden online. Das klappt zu ihrem Erstaunen sehr gut.

STANDARD: Sie sind Familientherapeutin. Die meisten Klienten sind bei Ihnen schon länger in Behandlung. Sie kennen sie also sehr gut. Wie kommt die Onlinetherapie bei ihnen an?

Astrid Just: Viele waren anfangs zögerlich, ich selbst auch. Diese Skepsis hat sich aber gelegt. Insgesamt bin ich positiv überrascht, wie gut meine Klienten dieses Medium annehmen. Inzwischen betreue ich sogar eine fünfköpfige Familie per Videokonferenz. Eine Therapiesitzung, in der sich Menschen gegenübersitzen, kann das jedoch nicht ersetzen.

STANDARD: Was geht online verloren?

Just: Über den Bildschirm lassen sich Gefühle beispielsweise nicht so gut auffangen wie in einer echten zwischenmenschlichen Begegnung. Wenn jemand weint, und ich sitze ihm gegenüber, habe ich mit ihm direkten Blickkontakt und bin physisch anwesend. Online werden wir hingegen vom Bildschirm getrennt. Empathie und Mitgefühl, die in der Therapie so wichtig sind, fühlen sich im direkten Kontakt viel intensiver an. Das ist zumindest meine Wahrnehmung. Wie Klienten das empfinden, müsste man erfragen.

STANDARD: Hat die Onlinetherapie Vorteile?

Just: Auf jeden Fall. Die Behandlungen wegen der Ausgangsbeschränkung plötzlich alle abbrechen zu müssen wäre für viele Klienten schlimm. Onlinetherapien können außerdem auf eine andere Weise sehr privat, also intim werden, wodurch ebenso Nähe entsteht.

STANDARD: Haben Sie ein Beispiel?

Just: Einer Frau ist während der Sitzung die Katze vor den Bildschirm gesprungen, wir mussten beide lachen. Bei dieser Gelegenheit konnte ich das Haustier kennenlernen. Eine andere hat mir ein riesiges Puzzle gezeigt, das sie in der Quarantäne gemacht hat, und ein Klient, den ich schon lange kenne, hatte hinter sich eines seiner selbstgemalten Bilder hängen. Solche Dinge kann man ansprechen und dadurch gut in Beziehung kommen, auch beim Erstgespräch. Umgekehrt haben sich viele meiner Klienten gefreut, dass sie die Praxis, in die sie normalerweise kommen, im Hintergrund erkennen können.

STANDARD: Haben sich die Themen mit Corona geändert?

Just: In der Regel nicht. Durch das Virus verstärken sich aber manchmal Probleme. Paradebeispiel ist das einer jungen Frau. Sie hat immer wieder depressive Phasen und fühlt sich alleine. Kontaktverbot und Ausgangsbeschränkung haben dieses Gefühl natürlich verstärkt. Dazu kommt, dass sie durchs Homeoffice keinen geregelten Alltag mehr hat. Sie geht spät ins Bett, schläft lange, und das bringt ihren Tag-Nacht-Rhythmus durcheinander. Ein Problem, das viele jetzt haben.

STANDARD: Länger zu schlafen kann ja auch entspannen. Warum ist das ein Problem?

Just: Es nimmt den Betroffenen ihre gewohnte Struktur, an der sie sich festhalten können, die ihnen Orientierung gibt und damit Stabilität. Gerade bei psychischen Erkrankungen wie einer Depression, oder wenn Medikamente eingenommen werden müssen, ist ein geregelter Tagesablauf wichtig. Ansonsten laufen viele Menschen Gefahr, in ein Tief zu fallen. Den Tag strukturieren, geregelte Schlaf-, Essens- und Spazierzeit einhalten und bewältigbare Aufgaben erledigen hilft hingegen, stabil zu bleiben. Viele meiner Klienten sorgen sich zudem um die eigene Gesundheit oder die ihrer Angehörigen, andere haben durch den Shutdown ernsthafte finanzielle Probleme.

STANDARD: Zu den Grundkonflikten kommt also ein zusätzliches Paket.

Just: Richtig. Für manche Menschen treten Probleme auch kurzfristig in den Hintergrund, weil jetzt etwas anderes stärkere Sorgen bereitet und sie sich an die Situation erst einmal gewöhnen müssen. Doch je länger diese Phase der Beschränkungen anhält, desto eher kommen Probleme hinzu. Je nach Lebenssituation können das Depressionen sein, Schlafstörungen, Süchte oder Ängste, aber auch Über- und Unterforderung. Da ist es natürlich gut, dass die Therapie online weitergeht oder auch begonnen werden kann.

STANDARD: Gibt es Personen, denen der gesellschaftliche Stillstand guttut?

Just: In meiner Therapie sind das vor allem Menschen, die permanent an ihrer Belastungsgrenze lebten und kurz vorm Burnout standen. Sie genießen es tatsächlich, endlich mal nicht ins Büro zu müssen und keinen vollen Terminkalender zu haben. Jetzt haben sie Zeit für Dinge wie Blumen pflanzen, Fotos einkleben, Joggen gehen, lesen. Die jungen Menschen haben aber zu kämpfen, oft mehr als die älteren.

STANDARD: Trotz Social Media?

Just: Das ist ähnlich wie mit der Therapie. Online-Unterhaltungen und Videochats sind zwar schön. Den direkten Kontakt können sie jedoch nicht ersetzen. In diesem Sinne leiden viele Jugendliche darunter, ihre Freunde und Freundinnen nicht treffen zu können. Die Schließung der Schulen macht ihnen ebenfalls zu schaffen. Durch das E-Learning müssen sie sich selbst organisieren. Das erfordert eine Menge Disziplin und Eigenverantwortung. Die meisten wohnen zudem bei ihren Eltern. Das birgt zusätzliches Konfliktpotenzial, weil viele Eltern von zu Hause arbeiten müssen.

STANDARD: Aufgrund der aufgezwungenen Nähe warnen Experten vor einem Anstieg häuslicher Gewalt. Haben Sie solche Fälle in der Behandlung?

Just: Aktuell nicht. Die Warnung ist aber absolut berechtigt. Denn durch das "Aufeinanderkleben" und Wegfallen von Ausweichmöglichkeiten wie Sport oder dem Treffen von Freunden steigt der Stresspegel, Aggressionen können zunehmen – nicht nur zwischen Eltern und Kindern, sondern auch zwischen den Partnern. Wer von akuter Gewalt bedroht ist, sollte sich daher auf jeden Fall Hilfe holen. Eine gute Anlaufstelle ist etwa die Frauenhelpline, die Tag und Nacht erreichbar ist, oder die Interventionsstelle, eine Opferschutzstelle des Bundeskanzleramts.

STANDARD: Was können Paare beziehungsweise Familien tun, um Eskalationen zu vermeiden?

Just: Da gibt es kein allgemeingültiges Rezept. Ich rate vielen dazu, den Leistungsanspruch runterzuschrauben – in Bezug auf die Kinder, aber auch auf sich selbst. Natürlich ist die Schule wichtig und müssen Aufgaben gemacht werden, Eltern und Lehrer sollten jedoch nicht vergessen, dass die aktuelle Situation auch für die Kinder eine Herausforderung darstellt. Wenn Jugendliche dann mal etwas mehr als üblich am Computer sitzen, ist das okay. In dieser herausfordernden Situation ist es sicher sinnvoll, es etwas entspannter anzugehen. Gemeinsame Bewegung oder Sport zwischendurch hilft natürlich auch immer.

STANDARD: Zwischen den Hausaufgaben zu netflixen ist also in Ordnung?

Just: Ich finde schon. Natürlich sollten sie nicht den ganzen Tag vor dem Bildschirm hocken, aber ein bisschen Ablenkung tut gut. Eltern können die Zeit dann nutzen, um selbst etwas zu entspannen, vielleicht ein Buch lesen oder in Ruhe arbeiten. Besser, Kinder sitzen einmal länger vor dem Bildschirm, und die Eltern tanken Energie, als wenn Überforderung und Konflikte den Alltag beherrschen. Jetzt geht es vielmehr um den respektvollen Umgang miteinander als den Erziehungsanspruch oder darum, Hausaufgaben perfekt zu meistern. Hierfür ist es außerdem wichtig, dass jeder in der Familie die Möglichkeit erhält oder, besser gesagt, die Erlaubnis, sich zurückzuziehen und auch mal alleine zu sein – und dass ihm oder ihr das auch nicht übel genommen wird.

STANDARD: Schwierig, wenn Bruder und Schwester im selben Zimmer schlafen.

Just: Eine gute Möglichkeit, um gemeinsam Regeln zu finden, wie man es dennoch schafft. Möglich ist beispielsweise, dass jeder der beiden mindestens eine Stunde am Tag das Recht bekommt, das Zimmer für sich zu haben, oder die Familie überlegt sich ein Codewort. Wird das benutzt, heißt es: Hier braucht jemand eine Auszeit, und die wird ihm dann auch gewährt. Das hilft nicht nur, potenzielle Eskalationen zu vermeiden, es bietet auch die Chance, seine eigenen Bedürfnisse zu reflektieren und zu lernen, diese einzufordern.

STANDARD: Was nehmen Sie für sich persönlich aus der Corona-Krise mit?

Just: Schwer zu sagen. Vermutlich erneut die Bestätigung, wie unterschiedlich Lebensrealitäten und Menschen sind. Für den einen ist die Ausgangsbeschränkung wie ein verlängerter Urlaub, für den anderen eine Katastrophe. Der kurz vor dem Burnout stehende Klient kann regenerieren, vielleicht sogar genesen, die alleinerziehende Mutter, die gerade den Job verloren hat, steht vor einem riesigen Trümmerhaufen. Dementsprechend unterschiedlich wird es sein, wie lange Menschen brauchen, die Krise zu verarbeiten. (Stella Hombach, 8.4.2020)