Arbeitnehmervertreterin Anderl: "Es ist unverständlich, warum der Schutz für Hochrisikogruppen so viele Ausnahmen vorsieht."

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Wer nach politischen Profiteuren der Krise sucht, landet bei der sozialdemokratischen Seite der Sozialpartner. Unter Türkis-Blau abgemeldet, saßen die Arbeitnehmervertreter beim Schnüren der Hilfspakete mit der Regierung am Verhandlungstisch. "Mit der Corona-Krise hat sich das schlagartig geändert", sagt Renate Anderl. "Wir sind wieder mittendrin."

STANDARD: Wie arbeitet eine Arbeiterkammer-Präsidentin in diesen Zeiten? Halten Sie einsam in der Zentrale die Stellung?

Anderl: Auch ich arbeite jetzt häufig in den eigenen vier Wänden, aber eine Freundin des Homeoffice bin ich nicht. Das Private verschwimmt mit dem Geschäftlichen, es gibt keine klare Grenze mehr. Ehrlich gesagt: Ich vermisse mein Büro.

STANDARD: Da sind Sie nicht allein. Die Zahl der Arbeitslosen ist in drei Wochen um 200.000 Menschen gestiegen. Wie lange wird es brauchen, da wieder runterzukommen?

Anderl: Ich habe keine Glaskugel. Dass die Wirtschaft langsam wieder hochgefahren wird, macht Hoffnung, trotzdem gilt es aufzupassen: Die Gesundheit muss Vorrang haben. Es ist deshalb unverständlich, warum die Verordnung der Regierung zum Schutz der Hochrisikogruppen so viele Ausnahmen vorsieht. Wer in der Pflege, im Spital, bei der Polizei oder im Supermarkt arbeitet ...

STANDARD: ... also in "systemrelevanten" Bereichen ...

Anderl: ... hat auch dann keinen Anspruch auf Dienstfreistellung bei voller Entgeltfortzahlung, wenn eine schwere Vorerkrankung, Immunschwäche oder Schwangerschaft vorliegt. Dabei stehen gerade diese Menschen im ständigen Kundenkontakt. Freigestellt gehören auch jene, deren Partnerin oder Partner zur Risikogruppe zählt.

STANDARD: Was fehlt Ihnen sonst noch im Hilfspaket der Regierung?

Anderl: Es ist gut, dass Arbeitnehmer, die Kinder, behinderte oder pflegebedürftige Menschen zu betreuen haben, eine dreiwöchige Sonderbetreuungszeit in Anspruch nehmen können. Doch die Sache hat einen Haken: Der Arbeitgeber muss erst zustimmen. Wenn jetzt mehr Geschäfte aufsperren, wird das für viele ein riesiges Problem. Der Bund sollte deshalb für alle drei Wochen den Lohn übernehmen statt nur für eine, im Gegenzug braucht es einen Rechtsanspruch.

STANDARD: Der Regierung verweist darauf, dass Schulen und Kindergärten eh Notbetreuung anbieten.

Anderl: Aber viele Eltern haben wegen Ansteckungsgefahr Angst, ihre Kinder dorthin zu schicken.

STANDARD: Das zehnmal größere Deutschland rechnet bis Ende April mit 150.000 bis 200.000 Arbeitslosen mehr. Ist der geringere Anstieg allein damit zu erklären, dass das Nachbarland weniger vom Tourismus lebt, oder reagiert die deutsche Regierung besser auf die Krise?

Anderl: Das würde ich nicht sagen, ich halte das heimische Paket für ausreichend. Österreich hat ein sehr gutes Modell der Kurzarbeit, das 400.000 Beschäftigten die Jobs sichert. Da hat die Bundesregierung gemeinsam mit den Sozialpartnern sehr rasch reagiert. Nur leider haben manche Unternehmen verabsäumt, das Angebot anzunehmen.

STANDARD: Die Kurzarbeit funktioniert so, dass der Staat einen Teil des Lohnes, der wegen der Arbeitszeitreduktion entfallen würde, weiterzahlt. Missbrauchen das manche Unternehmen nicht?

Anderl: Wir haben quer durch alle Branchen Hinweise auf Missbrauch. Bei uns melden sich Arbeitnehmer, die trotz Kurzarbeit genauso viel arbeiten müssen wie zuvor. Wir schauen genau hin, warten aber noch mit Anzeigen, weil sich Mehrarbeit ja im dreimonatigen Durchrechnungszeitraum ausgleichen lässt. Deshalb sollte jeder Beschäftigte seine Arbeitszeiten genau aufzeichnen. Missbrauch der Kurzarbeit ist glatter Betrug auf Kosten der Steuerzahler. Da kann auch eine Gefängnisstrafe drohen.

STANDARD: Für den Staat ist solch eine Lohnsubvention womöglich immer noch günstiger, als ein Unternehmen pleitegehen zu lassen, könnte man pragmatisch einwenden.

Anderl: Wenn etwa ein Unternehmen ohnehin voll produzieren kann, weil es genug Nachfrage gibt, dann braucht es sich nicht extra Steuergeld abholen.

STANDARD: Es gibt auch Arbeitnehmer, die freiwillig über das Kurzarbeitspensum hinaus arbeiten, weil sie dem Unternehmen helfen wollen.

Anderl: Es stimmt, viele Beschäftigten stehen zu ihren Unternehmen. Gerade in kleineren Firmen ist häufig zu hören: Der Chef sei halt so arm, da müssten die Mitarbeiter jetzt eine Zeitlang durch. Auf diese Loyalität kann man auch stolz sein – aber ich warne vor Selbstausbeutung bei der Kurzarbeit.

STANDARD: Mit dem berüchtigten Ostererlass hat sich die Regierung viel Kritik eingefangen. Haben Sie denn Verständnis für den Versuch, Zusammenkünfte in Privatwohnungen zu unterbinden?

Anderl: Wenn das Ziel ist, Familientreffen zu vermeiden, halte ich den Vorstoß der Regierung schon für verständlich. Die Sache war nur insofern verwirrend, als es plötzlich hieß, dass fünf Besucher in einem Haushalt erlaubt sind. Auch ich habe im Kopf gleich zu rechnen begonnen: mein Sohn, meine Schwiegertochter, mein Enkelkind … Dass dann der Rückzieher kam, hat sicher viele enttäuscht.

STANDARD: In der Regierung ist auch eine Debatte darüber ausgebrochen, wie hinterher die Krisenkosten zu bezahlen sind. Wie lautet Ihre Empfehlung?

Anderl: In der Krise sind alle sehr froh über unseren gut ausgebauten Sozialstaat, der jetzt viele Unternehmen und Arbeitsplätze rettet. Das wird viel Geld kosten. Was wir nicht wollen, ist, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer das mit Kürzungen in den Sozialsystemen bezahlen. Daher werden wir endlich ernsthaft eine breitere Finanzierung angehen müssen. Auch große Vermögen und große Erbschaften werden Beiträge leisten müssen. (Gerald John, 9.4.2020)