Im Gastkommentar zieht der Soziologe Georg Vobruba Parallelen zwischen Corona- und Eurokrise. Er sieht die Zeit für Euro-Bonds gekommen.

Gerade einmal zehn Jahre ist es her, dass die Gefahr einer europaweiten Ansteckung unmittelbar drohte. Es ging um die gemeinsame Währung. Sollte man einzelne Großbanken in der Eurozone pleitegehen lassen? Und das eine oder andere Mitgliedsland gleich mit in die Insolvenz schicken? Die Metapher "Ansteckung" formte die Vorstellungen des Krisenmanagements bis in die Details. Es ging um starke Medizin, bittere Pillen und um bedauerliche, aber unvermeidbare Nebenwirkungen. Die Folge waren rigide Sparauflagen für die "Krisenländer" im Süden und halbherzige Reformschritte in Richtung gemeinschaftlicher Stabilitätsmechanismen und Risk-Sharing. Dass die Eurokrise systemisch bedingt, die Suche nach Schuldigen also weitestgehend sinnlos ist und dass ihre Bewältigung nur durch eine Gemeinschaftsanstrengung nachhaltig gelingen kann, wurde nur vage zur Kenntnis genommen.

Der EU ist aus der Eurokrise die Nord-Süd-Spaltung geblieben. Sie wurde ein chronisches Leiden, war aber schon als – nun ja – Vorerkrankung da. Das politische Spitzenpersonal der Mitgliedsländer hat einen erheblichen Anteil daran, dass das Leiden mit der Eurokrise schlimmer wurde. Die Umverteilungsbereitschaft der Bevölkerungen zugunsten der Südländer wurde politisch unterfordert. Und die Lehre der Krise, dass sich in unserer hochverdichteten Weltgesellschaft die meisten Prozesse durch Staatsgrenzen nicht aufhalten lassen, wurde nicht ausreichend verstanden.

Gefahr – und Chance zugleich

Die weltweite Corona-Krise ruft diese fundamentale Lehre brutal in Erinnerung. Ansteckungsketten sind ebenso schwer greifbar wie Vertrauensverluste auf den internationalen Finanzmärkten, ihre Folgen aber viel anschaulicher. Damals waren es Arbeitslosigkeit und Armut, heute Intensivbetten und Leichentransporte. Die Corona-Krise ist die erste Pandemie in der Weltgesellschaft, bestimmt den Alltag und macht wie keine Krise davor die globalen wechselseitigen Abhängigkeiten bewusst. Darum ist die globale Ausbreitung eine immense Gefahr, das Bewusstsein der Abhängigkeiten aber auch eine Chance.

Diese Chance kann genutzt oder vertan werden. Sie wird vertan, wenn man die täglich gemeldeten Zahlen der Infizierten, Schwerkranken, Toten, der verfügbaren Intensivbetten und Betreuungsquotienten als eine Hitliste der Leistungsfähigkeit nationaler Gesundheitssysteme versteht. Die Chance der Krise wird vertan, wenn es zur Selbstberuhigung führt, dass es "bei uns" ohnehin relativ gut aussieht und die anderen an ihrem Elend letztlich doch irgendwie selber schuld sind.

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In der Eurokrise mussten Länder auch im Gesundheitssystem sparen. Das rächt sich nun.
Foto: Reuters / Guglielmo Mangiapane

Falsche Phänomene

Wenn man Gefahren und Chancen diskutiert, sollte man nicht auf die falschen Phänomene starren. Innereuropäische Grenzkontrollen sind genauso wenig ein Anzeichen für die Desintegration der EU, wie Mobilitätsbeschränkungen zwischen Bundesländern für den Zerfall von Österreich oder Deutschland sprechen. Solche Restriktionen richten keinen Dauerschaden an, sie lassen sich von einem Tag auf den anderen wieder beseitigen.

Nachhaltigen Schaden kann die europäische Integration durch mangelnde finanzielle Solidarität nehmen. Corona ist ein weltweiter Infektionszusammenhang, der einzelne Staaten oder auch Staatengruppen überfordert. Es gibt Ansätze zu länderübergreifender Hilfe. Frankreich übernimmt Patienten aus Italien, Deutschland aus Frankreich. Albanien sendet Ärzte nach Italien. So kann Leben gerettet werden, insgesamt aber ist das Symbolpolitik.

Bonds als Lösung

Den Symbolen muss materiale Politik folgen. Es geht um die transnationale Verteilung von Krisenlasten entsprechend dem Problemdruck und der finanziellen Leistungsfähigkeit. Staatsanleihen mit gemeinschaftlicher Haftung sind eine Möglichkeit dazu. Solche Corona-Bonds werden gegenwärtig etwa von Frankreich, Italien, Spanien gefordert. Damit wäre es den hauptbetroffenen Ländern möglich, die Finanzbelastung durch die Corona-Krise deutlich zu senken und sich gegen Spekulationen auf ihre Zahlungsunfähigkeit zu schützen.

Die Idee zu diesem Finanzinstrument ist nicht neu. In der Eurokrise berief Jean-Claude Juncker eine Kommission zur Auslotung der Möglichkeiten von Eurobonds. Thinktanks lieferten Vorschläge, an die man jetzt anknüpfen kann. Ihre Realisierung wurde allerdings von nördlichen EU-Mitgliedern, allen voran Deutschland, blockiert. Gegenwärtig sind es dieselben Länder, die mit denselben Argumenten opponieren: Es dürfe keine Vergemeinschaftung von Schulden, keine Anreize zu unsolider staatlicher Haushaltspolitik geben. Auch könne man einen solchen Schritt den Steuerzahlern nicht zumuten.

Vorübergehende Maßnahme

Aber die Einwände gegen gemeinschaftliche Bonds zählen gegenwärtig kaum: Es ist keineswegs unvermeidbar, dass sie der Verschwendung Vorschub leisten, denn es wäre leicht, diese Finanzmittel auf die akuten Probleme zu fokussieren. Und selbst wenn in dem Verschwendungsargument ein Funken Wahrheit steckt, kommt es jetzt darauf nicht an. Dazu der Präsident des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft, Michael Hüther: "Wir können ja nicht bei einer solchen Krise fragen, das würde man auch bei der Rettung eines Schiffbrüchigen nicht tun: Hast du vorher auch ordentlich gelebt?, sondern wir werfen den Rettungsring."

Keineswegs bedeuten Corona-Bonds, dass unter der Hand eine permanente Umverteilung eingeführt wird. Man kann sie als vorübergehende Maßnahme einführen. Anlass zu leiser Hoffnung auf ein Problembewusstsein gibt eine Bemerkung von Bundeskanzler Sebastian Kurz: "Eine generelle Vergemeinschaftung von Schulden lehnen wir ab." Er hat nicht gesagt: Eine Vergemeinschaftung von Schulden lehnen wir generell ab.

Widerspruch der Reichsten

Der Vorschlag zu Corona-Bonds, repräsentiert von Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron und von Italiens Premier Giuseppe Conte, scheitert am Widerspruch der reichsten Mitglieder, die sich neuerdings "die Sparsamen" nennen. In diesem Eigenlob steckt bittere Ironie: Zum Kranksparen ihrer Gesundheitssysteme hat man genau jene Länder genötigt, denen man jetzt den finanziellen Spielraum zu verweigern droht, um die Corona-Krise und ihre Folgen einigermaßen zu bewältigen. Die EU begibt sich hier ohne Not in eine doppelte Gefahr. Werden die ärmeren Länder mit den Lasten der realen Ansteckung allein gelassen, führt das in eine humanitäre und ökonomische Katastrophe. Der Ansteckung durch das Virus folgt die Ansteckung im Finanzsystem. Es liegt auf der Hand, dass sich beide wechselseitig aufschaukeln. Und wenn dann Hilfsangebote aus China und Russland kommen, wird daraus eine Integrationskrise der gesamten Union.

Die Politik sollte die Chance der Krise dieses Mal nutzen. Das Virus hat transnationale Interdependenzen bewusst gemacht. Die grausame Anschaulichkeit der Folgen der Epidemie steigert die Bereitschaft der Bevölkerungen zu Solidarität, lokal, europäisch und global. Das Know-how, um Solidarität politisch umzusetzen, ist da. Die Politik sollte angesichts der Gefahr doppelter Ansteckung beides nutzen. (Georg Vobruba, 8.4.2020)