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Schöne neue Welt des Homeschoolings: Allzu bedenkenlos werden Online-Tools wie Zoom verwendet.

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Seit das Coronavirus unseren Alltag durcheinandergewürfelt hat, schreitet auch die Digitalisierung diverser Lebensbereiche voran. Von staatlicher Seite werden vermehrt Maßnahmen zur Erfassung von Gesundheits- und Krankheitsdaten getroffen, ein sensibles Terrain, das die Frage nach dem Datenschutz aufwirft. In Österreich wird gerade diskutiert, ob eine Handy-App bei der Eindämmung des Virus helfen kann. Gewöhnen wir uns in der Krisenzeit viel zu schnell an eine neue Realität der (Selbst-)Kontrolle? Wir haben mit dem Kulturwissenschafter Dietmar Kammerer, der sich mit der Geschichte von Überwachungstechnologien befasst hat, über die Gefahren der Konditionierung gesprochen.

STANDARD: Edward Snowden hat jüngst beim Festival CPH: Dox davor gewarnt, dass Überwachungstechnologien, die während eines Ausnahmezustands implementiert werden, oft zum Normalfall werden. Eine berechtigte Sorge?

Kammerer: Wenn man wie Snowden den Blick auf die ganze Welt, speziell autokratische Länder wie Ungarn richtet, dann durchaus. Die Krise gerät zum Anlass für Notstandsgesetze, die vermutlich in einen Dauerzustand überführt werden. Wenn man sich die Geschichte der Überwachung anschaut, dann waren es stets Randgruppen, mit denen Überwachung legitimiert wurde. Mitte des 19. Jahrhundert wurde die Polizeifotografie auch für Kranke und Obdachlose benutzt, später wurden dann die Sorgegruppen wie die Alten einbezogen.

Dietmar Kammerer ist Kulturwissenschafter am Institut für Medienwissenschaft der Universität Marburg. 2008 veröffentlichte er das Buch "Bilder der Überwachung" (Suhrkamp).
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STANDARD: Bei Corona geht es nun um alle – und um die Frage, wer infiziert, wer immun ist. Was verändert diese Perspektive auf ein Seuchen- oder Krankheitsbild?

Kammerer: Der Philosoph Michel Foucault hat seine Machtanalysen anhand von Krankheiten gemacht, anhand der Pest in Überwachen und Strafen, anhand von Lepra, was die Aussonderung anbelangt. Bei der Pest war es klassische Überwachung. Alles wird gerastert, jeder muss in Quarantäne gehen. Später kamen dann noch Statistiken dazu. Wenn man sich das heute anschaut, sieht man eine Mischung dieser Typen. Die Krankheitsbekämpfung war also schon immer eine Methode des Staates, neue Machtformen auszuprobieren.

STANDARD: Es werden oft andere Länder zum Vergleich einbezogen. Müsste man nicht auch bei Überwachungstechnologien kulturelle Eigenheiten berücksichtigen?

Kammerer: Natürlich. Viele sagen, autokratische Länder kommen mit dem Virus besser zurecht, weil die Chinesen so diszipliniert sind. Aber das lässt sich nicht einfach auf uns übertragen – ich glaube auch nicht, dass die Zahlenmodelle aus China halten werden. Ein Land, das erfolgreich war, Taiwan, ist nicht autokratisch und hat sehr stark auf Bürgerbeteiligung gesetzt, um datenschutzfreundliche Tools zu entwickeln, die helfen, Corona zu bekämpfen.

STANDARD: Die Apps, über die man nun in Deutschland und Österreich diskutiert, sollen auch anonymisiert funktionieren. Allerdings wurde von der Regierung Kurz überlegt, möglicherweise Freiheitsrechte daran zu koppeln.

Kammerer: Das geht natürlich gar nicht. Schon weil es genug Leute gibt, die kein Smartphone haben. Außerdem besteht die Gefahr, dass uns die Apps ein falsches Sicherheitsgefühl geben. Man ist dadurch ja nicht vor Ansteckung gefeit. Solche Debatten zeigen, dass diese Apps weder "Freiwilligkeit" noch "Zwang" sind, sondern eine seltsame Melange aus beidem. Eine Freiwilligkeit ohne Vertrauen, die unter dem Vorbehalt steht: Macht das freiwillig, sonst gibt’s Sanktionen; oder ein dekretierter Zwang, der leicht ausgehebelt werden kann. Man muss das Smartphone nur abschalten. Und technische Lösungen produzieren auch Fehler. Das ist aber kein genereller Einspruch gegen die App.

STANDARD: Besteht nicht die Gefahr, dass wir uns an die Digitalisierung auf allen Ebenen gewöhnen und nachlässig werden?

Kammerer: Das Problem ist tatsächlich viel größer: Ich sehe zwei weitere große Bereiche. Das eine ist die Digitalisierung des Alltags, die zwar immer schon da war, wo aber in den Bereichen Arbeitsplatz, Konsum und Schule und Bildung noch viel massiver als früher auf Digitalisierung gesetzt wird. Leute setzen gerade extrem oft Zoom ein, das ist bereits der große Gewinner der Krise, obwohl viele Privacy-Organisationen davor warnen. Selbst Boris Johnson hat sie für eine Konferenz genutzt! Hat die britische Regierung keine eigenen Tools?

STANDARD: Wird zu wenig Aufklärung betrieben?

Kammerer: Man hat es verpasst, eigene Kompetenzen aufzubauen. Snowden hat sehr gut beschrieben, dass die US-Regierung nach 2001 händeringend nach Informatikern gesucht hat und gar keine Wahl hatte, als Private Contractors heranzulassen. Dass gewisse Anbieter als alternativlos dargestellt werden, ist ein großes Problem. Es ist schon von der Amazonisierung des Lebens die Rede. Auch von Schulen werden Plattformen empfohlen, die Schülerdaten abgreifen und monetarisieren. Abgesehen davon, dass man Schülern damit beibringt, dass es ganz normal ist, diese Dienste zu nutzen. Ich fürchte, das wird von der Corona-Krise auch bleiben.

STANDARD: James Bridle schreibt in seinem Buch New Dark Age davon, dass wir uns längst an ein System gewöhnt haben, für dessen Durchdringung uns Wissen fehlt.

Kammerer: Ja, es fehlt die Sensibilität, aber viele Aspekte werden auch einfach geheim gehalten. Es gibt auch Beispiele, wo wir schlicht angelogen wurden: von Facebook abwärts, was sich dann eben erst später über Whistleblower herausstellt. Das gute alte Datenschutzproblem ist in Corona-Zeiten, wenn es heißt "stay at home", wieder massiv da. Die Einschränkung der Freiheitsrechte ist der dritte große Bereich. Da habe ich aber noch das starke Vertrauen in unsere Regierungen, dass diese zurückgenommen werden. Noch sind wir nicht Ungarn.

STANDARD: Bietet die Kunst Mittel, auf diese Problematik aufmerksam zu machen? Kennen Sie dafür Bespiele – ich denke an Sibylle Bergs Roman GRM?

Kammerer: Den Roman kenne ich noch nicht. Aber ich habe mich mit mehreren Projekten an der Schnittstelle zwischen Kunst und Aktivismus beschäftigt, oft dient das Mäntelchen der Kunst tatsächlich dazu, aktivistische Arbeit zu betreiben. Manche Aktionen sind nicht praktisch, etwa sein Gesicht so anzumalen, damit die Gesichtserkennung es nicht erkennt. Aber auch das ist ein Hinweis darauf, dass es Gesichtserkennung im öffentlichen Raum gibt. Ein Problem der heutigen Überwachung ist, dass sie nicht fühl- und sehbar ist, da helfen künstlerische Methoden erstaunlich gut, etwas anschaulich zu machen. (Dominik Kamalzadeh, 9.4.2020)