"Wir leben in einer Gesellschaft, die von sogenannten Sachzwängen diktiert ist", sagt Christine Kirchhoff. Wir sollten wieder anfangen zu überlegen, wie wir eigentlich leben wollen.

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Nicht immer folgt auf getroffene Maßnahmen eine breite öffentliche Diskussion, an der sich auch die Politik beteiligt.

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STANDARD: Politik und Gesellschaft kämpfen in der Krise darum, die Kontrolle über das Geschehen zu behalten. Welche Probleme tun sich da auf?

Christine Kirchhoff: Wir sind es gewohnt, alles unter Kontrolle zu haben. Oder das zumindest zu glauben, denn an an vielen Ecken stimmt das ja ohnehin gar nicht. Ein solches Kontrollbedürfnis ist immer eine Reaktion auf Angst. Das finde ich an den derzeitigen Versuchen der Kontrolle und Eindämmung schwierig.

STANDARD: Inwiefern?

Kirchhoff: Wir leben in westlichen Gesellschaften schon ziemlich lange damit, dass es keine Infektionskrankheiten gibt, für die es weder eine Impfung noch ein Medikament gibt. Wir konnten relativ bequem mit der Illusion leben, dass wir unangreifbar sind. Nun gibt es eine Krankheit, von der wir nicht genau wissen, wie gefährlich sie tatsächlich ist, weil wir viele Zahlen, die wir bräuchten, noch gar nicht zur Verfügung haben. Und dann wird die Angst so groß, dass man in den Kontrollmodus umschaltet. Und nicht auch versucht, mit der Gefahr – die ich gar nicht unterschätzen möchte – auf sozial verträgliche Art und Weise umzugehen.

STANDARD: Passiert das nicht?

Kirchhoff: Ich finde es erstaunlich, in welchem Umfang Menschen bereit sind, Sanktionen und Grundrechtseingriffe hinzunehmen. Gerade in Deutschland und Österreich gibt es gute Gründe, bei den schwersten Grundrechtseingriffen seit dem Zweiten Weltkrieg empfindlich zu sein. Besonders in den ersten Wochen war die Diskussion von Alternativlosigkeit geprägt. Wer etwas einwerfen wollte, dem wurde vorgeworfen, Menschenleben zu gefährden. Das finde ich besorgniserregend. Dafür gab es Diskussionen darüber, ob die Bundeswehr die Polizei bei der Räumung von Parks unterstützen sollte. Das sind Kontrollfantasien. Wir müssen uns bewusst sein: Es geht nicht um alternativloses Handeln, sondern um politische Entscheidungen.

STANDARD: Sollen wir also mehr diskutieren?

Kirchhoff: Ja. Im Augenblick heißt es: Wir machen erst mal bei den Maßnahmen mit. Das halte ich auch grundsätzlich nicht für falsch. Aber langsam muss auch die Politik nachliefern im öffentlichen Diskurs und auch über Perspektiven sprechen. Fortschritt entsteht immer nur aus Kontroversen, aus Streit.

STANDARD: Dass man in Krisenzeiten Ambivalenzen zulässt, widerspricht der Tatsache, dass man von Politikern Leadership und Entschlossenheit erwartet. Politiker werden kritisiert, wenn sie Unsicherheit zeigen.

Kirchhoff: Krisen haben es an sich, dass wir deutlicher sehen, was im Normalzustand schon problematisch ist. Es ist ein Problem, dass der Wunsch danach, Dinge abzuwägen und dann so gut wie möglich zu entscheiden, als Schwäche gesehen wird. Wir leben in einer Gesellschaft, die von sogenannten Sachzwängen diktiert ist. Da müssen wir sowieso wieder mehr Bewegung reinkriegen, indem wir anfangen zu überlegen, wie wir eigentlich leben wollen. Wollen wir zum Beispiel ein Gesundheitssystem haben, das so zusammengespart wird, dass es uns in Krisen auf den Kopf fällt?

STANDARD: Aber bestimmte Sachzwänge kann man ja nicht wegwischen. Dass jetzt etwa schnell Entscheidungen getroffen werden müssen.

Kirchhoff: Klar. Natürlich muss man handeln. Aber was ich nicht verstehe: Wieso können wir nicht eine Debatte führen, während wir handeln? Alles andere ist eine autoritäre Dynamik. Wir brauchen einen mündigen Umgang.

STANDARD: Unser sozialer Kontakt wird dezimiert. Wie lange hält man das aus?

Kirchhoff: Aus der Individualpsychologie wissen wir, dass man so eine Krise häufig erst einmal durchsteht. Und erst danach weiß man, wie gut man das tatsächlich überstanden hat. Gerade für Menschen die ohnehin einsam sind ist das jetzt unglaublich schwierig. Viele geraten an ihre Grenzen.

STANDARD: Sehnen wir uns in Krisenzeiten nach Autorität?

Kirchhoff: Viele Menschen empfinden es als belastend, nicht zu wissen, wie lange das noch dauert. Das Bedürfnis nach Halt kann auch autoritär genutzt werden, indem die sogenannten starken Männer auftreten, die dann sagen: Ich weiß, wie es geht. Die versprechen, dass man die Unsicherheit nicht haben muss, wenn man ihnen folgt.

STANDARD: Es kursiert eine Unzahl an Verschwörungstheorien. Wie kann man denen den Wind aus den Segeln nehmen?

Kirchhoff: Verschwörungstheorien sind eine Antwort auf die Suche nach Halt, auf Unübersichtlichkeit und Ohnmacht. Da hilft es erst mal, Schuldige zu identifizieren und dann genau zu wissen: Von dort kommt es her, die muss man bekämpfen. Verschwörungstheorien sind jetzt so attraktiv, weil man eine Art sekundären Krankheitsgewinn hat, wenn man derjenige ist, der im Gegensatz zu den anderen Bescheid weiß. Das wertet narzisstisch auf. Dagegen setzen kann man letztlich nur eine gesellschaftlich möglichst breite und möglichst offene Diskussion, einen verantwortlichen und transparenten Umgang mit Daten und deren Interpretation. (Vanessa Gaigg, 21.4.2020)