Ein Unheil verdrängt das andere. Im Bann der Corona-Krise denkt kaum jemand mehr an die große Brandkatastrophe, die Paris am 15. April des vergangenen Jahres heimgesucht hatte. Verlassen, wie versteinert steht die Notre-Dame-Kathedrale inmitten menschenleerer Straßen da. Eine Palisade umgibt die Baustelle. Die Arbeiten ruhen in dem ausgebrannten Korpus seit knapp einem Monat.

Über dem Kirchenschiff hängt wie ein Leichentuch ein engmaschiges weißes Netz, das vor Steinschlag schützen soll. Noch nicht einmal aller Brandschutt ist beseitigt. Mitte März hätten sich Arbeiter von Kränen aus abseilen sollen, um havarierte Fensterbögen im oberen Teil des Baugerippes zu entfernen. Dazu kam es nicht mehr, weil Präsident Emmanuel Macron über das Land eine Ausgangssperre verhängte. Seither hat Notre-Dame nur noch von zwei Dieben Besuch erhalten. Sie wurden nachts verhaftet, als sie Steine des Gotteshauses abtransportieren wollten.

Bild nicht mehr verfügbar.

Foto: Reuters/Platiau

Zentrum Frankreichs

Doch jetzt interessiert sich niemand für ein steinernes Souvenir dieses Monuments, das nicht das spirituelle, sondern auch geografische Zentrum Frankreichs darstellt: Von seinem Vorplatz aus werden sämtlichen Distanzen im ganzen Land gemessen. Auch wenn die verkohlte Basilika wie erstarrt in den Pariser Himmel ragt, hat sich ihre Lage radikal verändert. Die Anteilnahme hat sich verlagert, der nationale, ja weltweite Solidaritätselan gilt nicht mehr der Kathedrale, sondern dem Spitals- und Pflegepersonal rund um den Planeten. In den sozialen Medien liest man Kommentare, die Millionenspenden für Notre-Dame sollten in die Krankenhäuser umgeleitet werden.

Solche Stimmen bleiben indes in der Minderheit. Auch republikanische und gar nicht religiöse Franzosen sehen in der Notre-Dame ein Symbol für die kollektive Prüfung, aber auch für den nationalen Widerstandswillen, den schon Victor Hugo zelebriert hatte. Und gerade zu Ostern ist das Martyrium des ausgebrannten Gotteshauses auch ein christliches Symbol für die österliche Wiederauferstehung.

Bild nicht mehr verfügbar.

Notre-Dame ist ein Symbol für den Widerstandswillen.
Foto: Reuters/Fuentes

Zeremonie im kleinen Kreis

Der Pariser Erzbischof Michel Aupetit will am Karfreitag einen Gottesdienst im Kirchenschiff abhalten. Von den Behörden hat er die Erlaubnis für eine – von den Sendern BFMTV und KTOTV um 11.30 Uhr via Internet übertragene – Zeremonie "in einem sehr kleinen Kreis" erhalten. Macron bittet allgemein darum, in Frankreich zu Ostern, zum Ramadan-Beginn und zum jüdischen Pessachfest auf jede religiöse Versammlung zu verzichten.

In der Ruinenkulisse der Notre-Dame wird deshalb am Freitag eine unübliche Zeremonie unter bischöflicher Leitung stattfinden. Zwei Schauspieler wollen Texte lesen, die sicher auch einen Bezug zur aktuellen Lage herstellen. Dann wird der Cellist Renaud Capuçon die so außerordentliche Stille in der Kathedrale, ja der ganzen Stadt mit seinem Soloinstrument durchdringen und beleben.

Der Erzbischof spricht nicht von einer "Messe", sondern einer "liturgischen Meditation" in "französischer Tradition". Sie richtet sich an alle Landes- oder Erdenbürger gleich welchen Glaubens. Aupetit verhehlt nicht, dass an diesem Karfreitag natürlich auch in der Kathedrale das christliche Symbol der Dornenkrone im Mittelpunkt steht. Mikrobiologen mögen denken: noch so eine Krone. (Stefan Brändle aus Paris, 9.4.2020)