Kerstin Marchner: "Die 24-Stunden-Betreuung muss eine gleichwertige Säule im Betreuungssystem sein."

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Viele Pfleger*innen bleiben jetzt. Auch aus Sorge, ansonsten lange nichts mehr zu verdienen.

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Wie geht es Pflegebedürftigen, wenn sich ihre 24-Stunden-Betreuer*innen nicht wie gewohnt um sie kümmern können? Diese Frage beschäftigt viele seit der Schließung der Grenzen, die Betreuer*innen aus der Slowakei, Tschechien, Ungarn, Rumänien oder Kroatien entweder aus- oder einschließt. Kerstin Marcher, Leiterin der Vermittlungsagentur Best Care 24 für selbstständige Betreuer*innen und Betreuungsbedürftige, über Forderungen für Verbesserungen für alle Beteiligten und den fehlenden finanziellen Rahmen für die 24-Stunden-Pflege.

STANDARD: Wie ist die Situation aktuell bei den Betreuer*innen, die Sie vermitteln?

Marchner: Derzeit ist alles eher ruhig. Wir versuchen mit allen in Kontakt zu bleiben. Es ist wichtig, dass sie sich weiterhin austauschen können, dafür haben wir ein gutes System: Diplomierte Pflegekräfte stehen vor Ort zur Verfügung und könnten neben fachlichen auch soziale Kontakte bieten, die es jetzt so dringend braucht. Wir telefonieren deshalb regelmäßig alle Betreuer*innen durch, dass sie wissen: Der Kontakt ist da – und dass wir nicht auf sie vergessen haben.

STANDARD: Was haben die 24-Stunden-Betreuer*innen größtenteils gemacht, als die Grenzen Corona-bedingt dichtgemacht wurden?

Marchner: Jene, die wir vermitteln, sind größtenteils bei den Klientinnen und Klienten geblieben. Sie haben ihr Einverständnis gegeben, ihren Turnus zu verlängern. Nachdem wir nicht wissen, wie sich die Situation entwickelt, haben wir empfohlen, dass sie jetzt hierbleiben und die Situation abwarten sollten. Das wurde von fast allen auch so angenommen.

STANDARD: Wir lange dauert so ein Turnus?

Marchner: Entweder zwei Wochen oder drei.

STANDARD: Also sind jetzt teilweise Betreuer*innen schon etwa einen Monat hier, ohne nach Hause zu können. Wie organisieren sie das mit ihren Betreuungspflichten, die sie auch daheim haben?

Marchner: Meine Erfahrung zeigt, dass diese Frauen richtige Organisationstalente sind. Die haben bei sich zu Hause meistens sehr gute Netzwerke aufgebaut, sodass zwei oder drei Wochen Abwesenheit schon sehr gut funktionieren. Es hat nur eine Betreuerin darum gebeten, doch zurückzufahren. Alle anderen wollten bleiben.

STANDARD: Wer fährt, hat auch das Risiko, lange nicht zurück zu können, um zu arbeiten.

Marchner: Ja, deshalb haben auch fast alle zugestimmt, zu bleiben. Deshalb ist es für sie so wichtig, ein gutes Übereinkommen mit ihren Familien zu haben und ein gutes Arbeitsumfeld, dann fällt es leichter, länger hier zu bleiben.

STANDARD: Was sagen Sie zu den Kürzungen der Familienbeihilfen für Frauen, die hier pflegen?

Marchner: Natürlich hatte das eine Auswirkung auf die Betreuer*innen. Wobei man sagen muss, dass die Familienbeihilfe nicht Teil des Gehalts und des Honorars ist. Das sollte aber der Ansatz sein: Die Förderung der 24-Stunden-Betreuer*innen sollte erhöht werden, damit sie ein höheres Honorar erhalten. Das wäre der sinnvollere Weg. Die Honorare liegen derzeit bei uns ab 52,50 Netto pro Tag, plus SVS-Gebühren und Fahrtkosten.

STANDARD: Den man nicht auf acht Stunden begrenzen kann?

Marchner: Nein, dass ein Tag acht Stunden hat, das kann man in der Betreuung wirklich so nicht sagen. Doch auch wenn es 24-Stunden-Betreuung heißt, bedeutet es nicht, dass man 24 Stunden am Tag parat stehen muss – acht Stunden sind es aber sicher auch nicht, wobei jeder Tag anders ist und die Familien auch unterstützen!

STANDARD: Verbesserung in der Betreuung wird schon lange gefordert. Sehen Sie für diese Forderungen in der Krise jetzt mehr Nachdruck?

Marchner: Ja, derzeit wird sehr deutlich, dass die 24-Stunden-Betreuung enorm wichtig ist. Gerade jetzt, wo es in vielen Heimen einen Aufnahmestopp gibt und die Krankenhäuser Betten freihalten müssen für die Notfälle, da bleibt letztendlich die 24-Stunden-Betreuung übrig. Sie muss eine Säule im Betreuungssystem sein, die auf einer gleichen Ebene steht wie die Hauskrankenpflege und die Pflege in einem Pflegeheim. Das heißt aber auch, es braucht einen entsprechenden finanziellen Rahmen. Mit dem Wegfall des Pflegeregresses gab es eine finanzielle Erleichterung für die Aufnahme in ein Heim, für die Betreuung zu Hause gab es keinen Ausgleich. Da bräuchte es wirklich eine Entlastung für die Familien und die zu Betreuenden.

STANDARD: Und was bräuchte es für die Betreuer*innen selbst?

Marchner: Das jetzige Bewusstwerden, wie wichtig das ist, ist schon mal ein erster Schritt. Die Personenbetreuerinnen brauchen auch vor Ort eine regelmäßige und umfangreiche Unterstützung von diplomierten Pflegerinnen und Pflegern, so wie wir das machen. So haben sie mehr Sicherheit, und es geht auch darum, einfach für sie da zu sein.

STANDARD: Was ist für die Familien besonders schwierig, wenn sie einen Pflegefall haben?

Marchner: Dass das Familiensystem aus der Balance kommt. Es kommen neue Aufgaben hinzu und damit die Frage, wer sie übernimmt. Wie schauen die finanziellen Rahmenbedingungen aus, wie die Räumlichkeiten? Wer ist der Hauptakteur, der sich um alles kümmert?

STANDARD: Und was ist die bevorzugte Lösung?

Marchner: Fast alle wollen versuchen, dass es zu Hause funktioniert. Die Klientinnen und Klienten wollen zu 99 Prozent zu Hause bleiben. Man muss sich dann damit befassen, ob und wie das funktionieren kann, und muss schauen, wo ist Unterstützung da, wo kann man vielleicht noch Ressourcen generieren. Gut funktionieren heißt, dass es sowohl für die Klientinnen und Klienten als auch für die Familien passt.

STANDARD: Sie haben selbst lange im Pflegebereich gearbeitet. Was ist das Belastende in dem Beruf?

Marchner: Körperlich gesund zu bleiben. Zu Anfang meiner Pflegetätigkeit war es gerade mal Pflicht, dass die zu Pflegenden ein höhenverstellbares Pflegebett haben – heute ist das Normalzustand. Trotzdem ist es noch immer eine körperlich schwere Arbeit, da muss jeder einen Ausgleich dazu finden. Die Hauptbelastung ist die Kombination aus körperlicher schwerer Arbeit mit der psychischen Belastung – ich muss aber dazusagen, dass ich meinen Beruf auch nach 30 Jahren noch liebe. Allerdings ist meine Hauptaufgabe jetzt die Beratung und Organisation, zumindest die körperliche Belastung fällt weg. Man geht in seinem täglichen Tun eine große Verantwortung ein, da ist es egal, welche Ausbildung man hat, das betrifft alle, ob man eine diplomierte Pflegekraft ist oder ein pflegende Angehörige. Die Verantwortung ist immer eine sehr hohe. Deshalb brauchen alle eine bestmögliche, qualitativ hochwertige Unterstützung.

STANDARD: Was sagen sie zum KV-Abschluss für die Sozialwirtschaft?

Marchner: Zur Reduzierung der Arbeitszeit muss ich sagen: Seit ich in der Pflege tätig bin, habe ich immer Überstunden gehabt. Die Gehaltserhöhung und die Stundenreduktion sind zwar wichtige Bausteine, aber wir brauchen einfach mehr Köpfe in der Pflege. Und wir müssen schauen, dass alle, die ausgebildet werden, langfristig in der Pflege bleiben. Dafür braucht es viele Einzelmaßnahmen wie flexiblere Dienstformen, vor allem für Wiedereinsteigerinnen. Eine Pflegekraft mit einem kleinen Kind könnte in einem Spital mit einem Dienstbeginn um sieben Uhr früh nicht arbeiten, außer sie hat privat Hilfe. Vor sieben Uhr hat auf dem Land noch kein einziger Kindergarten offen. Unterschiedliche Dienstformen und mehr Flexibilität sind enorm wichtig, aber das fordern wir auch schon seit 20 Jahren. (Beate Hausbichler, 10.4.2020)