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Ritus vor leeren Rängen: Papst Franziskus spendet am Petersplatz in Rom den Segen Urbi et orbi an eine Gemeinschaft der Gläubigen, die derzeit nicht zusammenkommen kann.

AP / Yara Nardi

Es hätte nicht Corona gebraucht, um festzuhalten, dass Gemeinschaften heutzutage stark erodieren. Vereinzelung innerhalb der Gesellschaft ist ein globales Phänomen. Es entspringt den von neoliberalen Industriestaaten diktierten und (oft unfreiwillig) gelebten Werten. Sie haben in den letzten Jahrzehnten ein entsprechendes technologisches Kommunikationsrüstzeug hervorgebracht, das Gemeinschaft bis zu einem gewissen Grad simulieren hilft. In einer Gemeinschaft aufgehen meint dann das Sich-selbst-Produzieren in diversen digitalen Kanälen. Darüber soll hier nicht gelästert werden. Wir tun es ersatzhalber ja (fast) alle!

Zu beklagen gibt es indes das Verschwinden von Gemeinschaftserlebnissen. Ein Zustand, den die Pandemie nun geradezu auf die Spitze treibt. Wir sollen einander nicht mehr aus nächster Nähe wahrnehmen bzw. begegnen. Die Telefon- und Computerbildschirme laufen umso schneller heiß und liefern Substitute ins Haus: viereckige Ausschnitte aus der Welt des Gegenübers.

Formen der Beteiligung

Es gibt keine Fußballspiele mehr, keine Theateraufführungen, keine religiösen und keine privaten Feiern, keine Livekonzerte, keine Demonstrationen. Alles abgesagt oder untersagt. In größerer Runde zusammenkommen können wir derzeit nur über diverse Apps. Damit beraubt uns die Pandemie auch aller Rituale, denen heute noch die Erfahrung von Gemeinschaft innewohnt. Es sind Formen der Beteiligung, die dem sozialen Wesen Mensch eignen, je nach Interessen- und Bedürfnislage. Für den Philosophen Byung-Chul Han ist das Ritual gar das "Haus des Menschen". Es helfe, das Leben zu stabilisieren, indem es der grundsätzlichen Ausgesetztheit und Verunsicherung des Menschen ein beständiges Muster entgegenhalte.

Rituale helfen also, sich in der Welt zurechtzufinden. Umgemünzt auf Gemeinschaftserfahrungen im Sinne von Menschenzusammenkünften kann etwa das Ritual der religiösen Feier den Teilnehmern Halt geben. Denn das Ritual ist eine nach festen Regeln ablaufende, sich stets wiederholende kommunikative Handlung. Auf sie können wir uns verlassen, weil wir uns in ihr bereits auskennen. Einfach gesagt: Das Ritual ist eine Form des Sich-Auskennens. Wie auch im Fußball: Das Spiel und seine Wegmarken sind immer das Gleiche, aber überprüft muss es werden!

Auch das derzeit nicht stattfindende Theater hat eine rituelle Dimension. Nicht selten war in den letzten Jahren davon die Rede, wie bedeutsam in ritualarmen Zeiten (Stichwort: Kirchenaustritte) das Theater als sozialer Gemeinschaftsraum geworden ist. Hier wird zwar keinem Gott gehuldigt, auch wenn sich das europäische Theater aus dem antiken Dionysos-Kult entwickelt hat, sondern es werden die immer gleichen Fragen gestellt. Der flämische Regisseur Luk Perceval definiert es so: "Theater ist das Ritual des Fehlens der Antwort." Theater sei ein gemeinsames Fragenstellen mit der immergleichen Nichtantwort. Das gemeinsame Fragen befreie uns aus der individuellen und exis tenziellen Einsamkeit, so Perceval. Als exponiertes Beispiel dafür gilt seine 1999 bei den Salzburger Festspielen herausgebrachte Zwölf-Stunden-Aufführung der Shakespeare’schen Königsdramen, Schlachten.

Mantra der Klage

Auch Tadeusz Kantor oder Peter Brook gelten als Verfechter der Ritualhaftigkeit des Theaters. Einer ihrer späten Erben ist der deutsche Regisseur Ulrich Rasche – er hat im Herbst mit den Bakchen die Ära Martin Kušejs am Burgtheater eröffnet. Seine Sprech- und Bewegungschöre gleichen einem Ritus, präzise rhythmisierten Sprechakten, die anschwellen und abflauen und letztlich wie ein Mantra das Schicksal seiner Protagonisten vorführen und beklagen. Die Katharsis – die mit dem Durchleiden von Mitleid und Furcht erreichte Läuterung –, gilt immer noch als die zentrale Erfahrung im Theater, alle intellektuellen Implikationen mitgedacht.

Dabei bleibt das Erlebnis in Gemeinschaft immer noch ein individuelles. Der Mensch ist in der Menge von sich entlastet und muss doch er selbst bleiben. Das ist beim österlichen Gottesdienst nicht anders als beim Rave: Der Einzelne ist im Sog der Menge aufgehoben. Gebetsrituale oder Tanzrituale verfolgen einen ähnlichen Zweck: sich der eigenen Welt versichern, indem man einem festen Ritual folgend mit den anderen kommuniziert. Vorläufig ist diese Erfahrung der Gemeinschaft nur simuliert zu haben.