Ginge es nach der Hündin Rosi, sollte man die Maßnahmen ruhig noch nachschärfen!

Foto: Daniel Glattauer

Wir haben eine Gewinnerin, eine echte Nutznießerin der derzeitigen Situation bei uns daheim. Es ist Rosi, unsere dreijährige Mischlingshündin. Rosi liebt die Quarantäne. Denn Rosi hasst Menschen.

"Hassen" ist freilich überspitzt formuliert, denn dieser Hass ist nichts anderes als Angst. Scheu. Skepsis. Unbehagen. Argwohn. Misstrauen. Ja, unsere Rosi traut den Menschen prinzipiell nicht über den Weg. Ihr geht es mit der Menschheit dabei etwa so wie zum Beispiel einem gar nicht unerheblichen Teil der Österreicher mit Flüchtlingen.

Man nimmt instinktiv das Schlimmste von ihnen an, und man kann dem kein rationales Denken entgegensetzen. Menschen, die Flüchtlinge fürchten, können es nicht, weil sie die über Jahre und Jahrzehnte (und erst jüngst wieder mustergültig) aufgebauten Feindbilder und Bedrohungsszenarien nicht aus dem Kopf kriegen.

Rosi kann es nicht, weil sie ein Hund ist und so schon theoretisch nicht über die notwendigen geistigen Kapazitäten zur Gegensteuerung verfügt.

Orbanisiertes Erwachen

Warum sie so eine Angstmeierin ist? Das geht vermutlich auf ihre ersten Lebensmonate zurück. Sie war in Ungarn in die Welt geworfen worden, und dieses frühwelpische orbanisierte Erwachen und Erleben hat bei ihr offensichtlich traumatische Spuren hinterlassen, man kann es ihr nachfühlen.

Zum Glück wurde sie von Tierschützern entdeckt und in die Steiermark gebracht. Dort lebte sie ein halbes Jahr möglichst zurückgezogen bei einer Familie, der leider der Platz zu eng wurde, als noch ein Baby zur Welt kam. Deshalb landete sie bald danach im Internet – unter der brutalen postmodernen Option "Will haben".

Physisch befand sich Rosi (damals hieß sie übrigens noch "Saphira", was für uns leider gar nicht ging) auf einer kleinen steirischen Hundefarm, als wir sie besuchten und bereit waren, sie aufzunehmen.

Im Kreise ihresgleichen war sie aufgeweckt, lauffreudig und verspielt, und wir waren sofort in sie vernarrt. Sie aber nicht in uns. Als wir auf sie zuzugehen versuchten, wich sie zurück und versteckte sich unter dem Bauch eines verbündeten Bernhardiners, ihres damaligen Bodyguards, den sie wohl ihr Leben lang vermissen wird.

Menschen lieber aus dem Weg gehen

"Sie braucht ein bisschen", meinte die Pflegerin: "An ihr Frauerl wird sie sich aber rasch binden." Vom "Herrl" war interessanterweise nicht die Rede, und das hatte einen triftigen Grund. Rosi scheut zwar alle Menschen, aber ausgeprägte Aversionen entwickelt sie nur gegen die Hälfte von ihnen, gegen Männer, was laut Aussagen von Tierärzten auf ihre früh erworbene oder bereits in den Geburtskorb gelegte Testosteron-Intoleranz zurückzuführen ist.

Es fällt mir deshalb gar nicht leicht, an dieser Stelle zugeben zu müssen, dass es zwischen Rosi und mir sehr bald schon recht gut geklappt hat. Mich ließ sie erstaunlicherweise ganz nah an sich heran. Somit hatte sie wenigstens zwei Menschen, an die sie sich eng und immer enger band. Mehr sollten in den folgenden fünfunddreißig Monaten bis zum heutigen Tag nicht dazukommen.

Mit Tieren ist Rosi im Reinen. Sie interessiert sich ausgeprägt für Katzen, deren Schleichgang sie perfekt zu imitieren vermag, die aber zu ihrer großen Enttäuschung stets vor ihr davonlaufen. Kein Maulwurfgraben ist zu tief für ihre Nase. Besonders emsig spürt sie Wühlmäuse auf, die kleinen verschluckt sie, die großen gibt sie irgendwann wieder frei, wenngleich die dann oft schon ziemlich lädiert sind.

Todesmutig schnappt sie nach Bienen, Wespen und Hornissen, jagt (bei jeder der sich spärlich bietenden Gelegenheiten) bis zur völligen Erschöpfung Feldhasen nach und verfolgt das ehrgeizige Ziel, einmal in ihrem Leben eine dieser provokanten, abgehobenen Krähen zu erwischen.

Menschen dagegen sind für sie tabu. Nie würde Rosi auf die Idee kommen, auf einen Passanten freiwillig auch nur einen Schritt zuzugehen. Nur in der Rückwärtsbewegung ist sie trittsicher und in ihrer Körperhaltung geradezu elegant. Wie überhaupt die Art und Weise, wie sie ihre Umwelt scheut und den Menschen aus dem Weg geht, etwas Behutsames, Unprätentiöses und Anmutiges hat.

Sie folgt dabei treu dem Prinzip "Leben und leben lassen" oder, wenn ihr Gemüt gerade labil geschichtet ist, dem Motto "Tu mir nichts, ich tu dir auch nichts, ich tu dir sowieso nichts, denn ich will rein gar nichts mit dir zu tun haben."

Bekannte sind wiederkehrende Fremde

Für Rosi sind alle Menschen fremd, Fremde sind einmalige Fremde, Bekannte sind immer wiederkehrende Fremde. Unerbittlich ist sie bei Besuchen unserer Freunde und Familienmitglieder, denen sie den Kosenamen "Neurosi" verdankt. Schon in der Vorbereitungsphase auf ein Zusammentreffen, wenn wir mehr als nur zwei Teller aufdecken, was sie sofort bemerkt, beginnt sie tief zu gurgeln, nervös zu tänzeln und gebannt zur Eingangstür zu starren.

Wenn diese üblichen verdächtigen Gestalten, die sie allesamt per Namen kennt und fürchtet und deren unermüdlichen Streichelversuche, perversen Liebesbekundungen und penetranten Anbiederungsbemühungen bereits tiefe Furchen in ihre Psyche gegraben haben, wenn die es dann tatsächlich wieder geschafft haben, die Schwelle zu überschreiten, den Flur zu betreten und in ihre Privatsphäre einzudringen, dann wirft sie alles an verzweifelter Gegenwehr in die Waagschale, was sie akustisch aufzubieten hat und bellt sich in einer Stimmlage zwischen dem späten Tom Waits und den frühen Rammstein die Seele aus dem Leib. Doch die Leute haben kein Einsehen und warten geduldig, bis sie resignativ verstummt und sich in eine ihrer zahlreichen geschützten Ecken verkriecht.

Ironie des Schicksals

Das Schlimmste, was ihr Menschen antun könnten, wäre, dass sie sich in ihrer Anwesenheit in Gruppen zusammenrotten, die Räume eng machen, Fluchtwege absperren, ihre oftmals roten Köpfe zusammenstecken, ihre aufgeheizten Körper eng aneinanderpressen, mit den Beinen in den Boden stampfen, Sauf-Gestank verbreiten und zu hämmernder Musik grölen. Nennen wir einen Namen für ein derart bestialisches volkstümliches Treiben: Gabalier-Konzert.

Nennen wir einen zweiten Namen: Après-Ski. Ja, es ist schon eine Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet bei derartig grauenhaft ausgelassenen Zusammenkünften vor wenigen Wochen die Welt zugunsten Rosis auf den Kopf gestellt wurde.

Denn mitten in die Horrorszenarien feierwütiger europäischer Skiurlauber in prall gefüllten Tiroler Hütten platzten die weitgereisten Covid-19-Viren mit voller Wucht hinein und schickten sich an, nach Italien auch Österreich zu erobern.

Lebensform Quarantäne

Ab diesem Zeitpunkt haben die verantwortlichen Menschen, allen voran die Tiroler, in Rosis Augen zweifelsfrei alles richtig gemacht, wie auch dieser vom selbstlosen Landeshauptmann in die erste Reihe gestellte sympathische Tiroler Landesrat, wie hieß er doch gleich – Bernhard Tilg (sicher ein großer Tierfreund), nicht müde wurde trockenkehlig zu betonen.

Ja, sie haben gute Arbeit gemacht, sie haben zugewartet – und sei es aus Geldgier, aber sinnvolle (Un-)Taten rechtfertigen mitunter unedle Motive. Denn diese Leute haben für Rosi den längst überfälligen Weg in die neue, faszinierende Lebensform der Quarantäne geebnet.

Seit Beginn der Maßnahmen zum "Schutz der Bevölkerung" fühlt sich unsere Hündin wie neugeboren. Sie blüht förmlich auf, ist agil und lebenslustig wie nie zuvor. Kein Wunder, wir sind ja nur noch zu dritt. Wir lassen niemanden mehr herein.

Wir gehen nirgendwo mehr hin. Und selbst die unverzichtbaren täglichen Gassi-Gänge, die vormals allzu oft von unschönen Zwischenfällen mit distanzlosen Spaziergängern geprägt waren, sind von einer völlig anderen Qualität.

Denn die Fremden verstehen plötzlich, sich Rosi gegenüber gesittet und manierlich zu benehmen. Sie machen schöne große Bögen um sie, wenden ihre (neuerdings von seltsamen Maskierungen verdeckten) Gesichter würdevoll ab und suchen niemals mehr ihre Nähe, sondern zielgerichtet stets gleich das Weite.

Bitte ein Jahr anhängen!

Ginge es nach Rosi, so sollte man diese vermeintlich drastischen Maßnahmen mit etwas rigoroseren Ausgehverboten noch eine Spur nachschärfen, könnte den Pflichtabstand zwischen zwei Lebewesen, die nicht im selben Haushalt wohnen, auf fünf Meter erhöhen, könnte Zuwiderhandeln strenger prüfen und härter bestrafen – das hieße, dem wackeren Herrn Nehammer eventuell einen berittenen Herrn Kickl zur Seite zu stellen. Dies alles wäre für Rosi sinnstiftend, solange das von China entsandte Virus bekämpft werden muss.

Und sollte Covid-19 einmal den Geist aufgegeben haben, so könnte man ja, sicherheitshalber, noch ein Jahr Quarantäne anhängen. Bis es dann wohl auch in die letzten Köpfe hineingegangen ist, dass das respektvoll distanzierte Nebeneinander die gesündeste und sozialste Form des zeitgemäßen zivilisierten Miteinanders ist. Dann brauchen wir auch kein verdammtes Virus mehr. (Daniel Glattauer, 11.4.2020)

Foto: Toppress / Karl Schöndorfer