Egal, wie wenig Sie im Moment schlafen, es ist vermutlich mehr als Sebastian Kurz oder Rudi Anschober. Die Mitglieder des Krisenstabs kommen auf circa drei bis vier Stunden pro Nacht. Daran führt wohl kein Weg vorbei, das geht auch körperlich eine Zeitlang gut.

In der Politik ist es aber leider Normalzustand: Obama schlief nur vier Stunden, auch Merkel kommt nicht auf mehr, obwohl sie das laut eigener Aussage für "einigermaßen konstante Laune" brauchte.

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Eine Zeitlang geht wenig schlafen gut.
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In der Politik wird chronischer Schlafmangel fast glorifiziert: Der deutsche CDU-Politiker Rainer Barzel verlor den Wahlkampf 1972 unter anderem deshalb, weil über sein ausgeprägtes Ruhebedürfnis diskutiert wurde.

Wie ein Promille Alkohol im Blut

Schlafstörungen gelten nicht erst als "Volkskrankheit", seit das Coronavirus vielen Menschen noch unruhigere Nächte beschert. In einer Studie der Med-Uni Wien aus dem Jahr 2018 gaben 30 Prozent der Österreicher an, an Einschlafproblemen zu leiden. Bei den Durchschlafproblemen waren es sogar 51 Prozent.

Das ist nicht nur viel, sondern auch mehr als früher. In einer vergleichbaren Studie aus dem Jahr 2007 waren es nur sechs beziehungsweise 26 Prozent. Chronischer Schlafmangel macht den Menschen unkonzentriert, dick und krank.

Wer zehn Nächte hintereinander nur sechs Stunden schlafe, befinde sich in einem Zustand, als hätte er ein Promille Alkohol im Blut, lautet ein bekanntes Zitat des Chronobiologen Christian Cajochen. Ganz so einfach sei das nicht, sagen andere Schlafforscher. Aber dass sich ein chronisches Schlafdefizit auf Körper und Geist auswirkt, ist unbestritten.

Hochindividuell

Redet man mit Leuten, die unter dauerhaften Schlafstörungen leiden, beschreiben sie oft dieselben Wahrnehmungen: ein Leben hinter Glas, die Unfähigkeit, sich zu konzentrieren, das sekundenlange Wegknicken am Tag. Die konstante Grantigkeit, die manchmal in kurze Phasen der Euphorie überkippen kann.

"Man fühlt sich ein bisschen ferngesteuert", sagt ein Wiener Fotograf, der seit seiner Jugend immer wieder unter Phasen der Schlaflosigkeit leidet. "Man funktioniert, es ist aber so, als würden die Handlungen automatisch abgespult."

Der Mensch hat einen 24-Stunden-Zyklus, Schlaf lässt sich nicht einfach so am Wochenende nachholen.
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Versucht man sich dem Problem zu nähern, lautet die erste, banale Frage: Wie viel Schlaf braucht der Mensch? "Vor zehn Jahren hätte ich diese Frage noch eindeutiger beantwortet", sagt Gerhard Klösch, Schlafforscher an der Med-Uni Wien.

Damals habe man noch geglaubt, man könne das generalisieren. "Heute wissen wir, dass das Schlafbedürfnis hochindividuell ist." Die Empfehlung von sieben bis acht Stunden Nachtruhe ist weiterhin ein Richtwert, es gibt aber Leute, die dauerhaft gut mit sechs Stunden leben können.

"Wir wissen, dass der Mensch heute circa ein bis anderthalb Stunden weniger als vor 100 Jahren schläft", sagt Klösch. Das sei ein sozialkulturelles Phänomen. Wir gingen immer später ins Bett, würden aber immer noch zwischen sechs und sieben aufstehen. Wir verlieren damit Schlaf, und einmal "verlorener" Schlaf ist auch für immer verloren: Der Mensch hat einen 24-Stunden-Zyklus, Schlaf lässt sich nicht einfach so am Wochenende nachholen.

Gestörter Schlaf

Es ist nicht einfach, über Schlafstörungen zu reden, weil sich da Physiologie (Schlafe ich schlecht?) und Psychologie (Hab ich das Gefühl, ich schlafe schlecht?) vermischen. Vor allem die Schlafpsychologie ist komplex: Das subjektive Erholungsempfinden hängt in hohem Maß davon ab, wie wir uns an die späten Phasen der Nacht erinnern.

Oder wir empfinden Nächte, in denen wir "vier- bis fünfmal in der Nacht aufwachen", als stressig, obwohl der Mensch in Wahrheit 20- bis 25-mal pro Nacht aufwacht, ohne sich daran erinnern zu können.

"Ich hab öfter Patienten im Schlaflabor, denen ich nach den Tests sagen kann: Objektiv betrachtet, ist Ihr Schlaf völlig in Ordnung", sagt Klösch. "Die gehen dann meist beruhigt nach Hause." Und vielleicht empfinden sie danach ihren Schlaf auch als besser, weil sie nicht so gestresst sind.

Es wäre falsch, die schlafpsychologische Komponente als unwichtig abzutun: Es mag sein, dass mein Gefühl, schlecht zu schlafen, physiologisch keine Grundlage hat. Schaden tut es mir trotzdem.

83 Störungen

Die aktuelle Version der International Classification of Sleep Disorders (ICSD) aus dem Jahr 2014 umfasst 83 Störungen, die in sieben Kategorien eingeteilt werden. Das geht von Insomnien, also zum Beispiel der chronischen Schlaflosigkeit, über die Schlafatmungsstörungen bis zu Parasomnien wie Schlafwandeln oder Bettnässen. Und umfasst alles von halbwegs normalen Alltagsphänomenen wie Schnarchen bis zu krankhaften Syndromen wie dem Schlafterror.

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Nur alle anderthalb Stunden hat man ein Zeitfenster, in dem man gut einschlafen kann. Verpasst man diesen Moment, bringt es wenig, sich weiter herumzuwälzen.
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Wenn wir von "Schlafstörung" als gesellschaftlichem Problem reden, meinen wir im Normalfall die subjektiv empfundene Schlafqualität. Die meisten Forscher sagen, dass diese Art der Schlafstörungen tatsächlich zugenommen hat.

Die eindrucksvollen Zahlen seien aber mit einer gewissen Vorsicht zu genießen. "Wir haben das Problem, dass sich für unsere Studien hauptsächlich Menschen melden, die für das Thema Schlaf und Schlafstörungen ohnehin sensibilisiert sind", sagt Kerstin Hödlmoser, Klinische Psychologin und Schlafforscherin an der Uni Salzburg.

Selbsteinschätzung

Wirklich randomisierte Studien zu dem Thema gibt es in Österreich nicht viele. Und es kommt noch etwas hinzu: Viele Studien mit hoher Personenanzahl basieren auf Selbsteinschätzung des Schlafs.

Und die ist nicht nur subjektiv, sondern auch kulturell anfällig: Wenn Schlaf in der Gesellschaft einen höheren Stellenwert hat, ist die Chance, dass ich meinen Schlaf als unzureichend empfinde, höher. Ein Vergleich von Zeiten, wo "Selfcare" großgeschrieben wird, mit den Wer-schläft-verliert-80ern ist dadurch nicht ohne weiteres möglich.

Einer der Übeltäter, der Menschen am Einschlafen hindert oder sie dazu bringt, nach kurzen Aufwachphasen keine Ruhe mehr zu finden, ist relativ einfach zu identifizieren: das Smartphone. Die Wissenschaft streitet noch darüber, wie groß der Einfluss des Blaulichts der Handybildschirme wirklich ist.

Aber es kommt auch noch ein psychologischer Faktor hinzu. "Wenn ich bis kurz vor dem Einschlafen in den sozialen Netzwerken und auf Nachrichtenseiten herumsurfe, nehme ich all den Stress, alle Angespanntheit mit", sagt Hödlmoser. So habe ich kaum eine Chance, einmal kurz abzuschalten.

Stress ist ein absoluter Schlafkiller. Dementsprechend ist es kein Wunder, wenn während gesellschaftlich unruhiger Zeiten wie in der Finanz- oder Coronakrise, wo Jobs in Gefahr sind und Familien unter Dauerdruck stehen, auch schlechter geschlafen wird.

Was tun?

Was kann ich also tun, um besser zu schlafen?

Tipps eins: Handy und Laptop aus dem Bett verbannen oder zumindest eine Stunde vor dem Einschlafen zur Seite legen.

Tipp zwei: Schlafdruck über den Tag aufbauen. Wer nachts schlecht schläft, sollte nachmittags kein Nickerchen machen.

Und Tipp drei: am Abend der Müdigkeit hingeben, wenn sie kommt. Der Mensch hat einen sogenannten Basic Rest Activity Cycle von etwa 90 Minuten. Sprich man hat nur alle anderthalb Stunden ein Zeitfenster, in dem man gut einschlafen kann. Verpasst man diesen Moment, bringt es wenig, sich weiter herumzuwälzen, das stresst nur. Dann sollte man lieber wieder zum Buch greifen, es aber sofort weglegen, wenn einem die Augen wieder schwer werden.

Die gute Nachricht: Es ist komplett normal, in unruhigen Zeiten einmal weniger zu schlafen oder den Schlaf als wenig erholsam zu empfinden. Kein Grund zur Panik, der Mensch kann mit dem Schlafdefizit erst einmal gut umgehen.

"Die Tagesverfassung sollte ausschlaggebend sein", sagt Gerhard Klösch. Die Frage, ob ich den ganzen Tag zombiehaft herumschlurfe und um 10.30 Uhr schon wieder müde bin, ist wichtiger als die reine Schlafzeit oder mein Empfinden am Morgen.

Mehr Kompromisse

Darüber hinaus gibt es in der Schlafforschung einige Diagnosekriterien: Wenn ich über drei Monate lang länger als 30 Minuten zum Einschlafen brauche, Wachphasen über einer halben Stunde habe oder eine "Schlafeffizienz" (das Verhältnis von meiner Zeit im Bett und dem tatsächlichen Schlaf) von unter 80 Prozent habe, dann sollte ich mir das anschauen lassen.

In ganz seltenen Fällen hat Schlafentzug übrigens auch seine Vorteile, zumindest in der Politik: Mit der eigenen Müdigkeit steigt die Kompromissbereitschaft. Manche historische Einigung könnte also durchaus auch ihre banalen Gründe haben: Es wollten alle ins Bett. (Jonas Vogt, 12.4.2020)