Istanbuls Polizei straft Verstöße gegen die Ausgangssperre.

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Die Regierung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan schwankt, aber noch hält sie sich. Unter diesem Motto lässt sich das verheerende Echo in der türkischen Öffentlichkeit zusammenfassen, nachdem sich angesichts der Corona-Krise zum zweiten Mal ein Minister einen fatalen Fehler geleistet hat.

Am Freitagabend um 22 Uhr hatte Innenminister Süleyman Soylu ohne Vorwarnung eine Ausgangssperre für die 31 größten türkischen Städte angekündigt, die zwei Stunden später für 48 Stunden in Kraft treten würde. Die Folge war eine Massenpanik, weil tausende Menschen die wenigen noch offenen Supermärkte und Bäckereien stürmten. Rund 250.000 Menschen waren nach Schätzungen dicht gedrängt vor den Läden versammelt. "Die Zahlen der durch dieses Ereignis neu Infizierten werden wir spätestens in zwei Wochen sehen", sagte Tevfik Özkü vom Wissenschaftsrat.

Nicht nur Oppositionskritik

Das Echo auf die verunglückte Verhängung der Ausgangssperre war verheerend. Selbst Politiker der mit der AKP verbündeten MHP verlangten Aufklärung. Die Opposition bezeichnete das Vorgehen des Innenministers als Desaster. Ex-Regierungschef Ahmet Davutoglu konstatierte: "Die Regierung ist unfähig, die Krise zu managen."

Innenminister Soylu verbreitete mehrere Versionen, wie es zum Chaos kommen konnte. Am Sonntagabend gab er auf und erklärte seinen Rücktritt. Doch die Freude der Opposition über den Rücktritt des in weiten Kreisen verhassten Soylu, der seit dem Putschversuch 2016 die Verfolgung aller Regierungsgegner gnadenlos exekutiert hat, währte nur kurz. Wenige Stunden später teilte das Präsidialamt mit, der Präsident habe den Rücktritt des Innenministers abgelehnt.

Empörung über Kanalprojekt

Zurück bleibt der Eindruck, dass Präsident Erdoğan, der in allen wichtigen Fragen die letzte Entscheidung trifft, nicht weiß, was er will. Immer wieder sah er sich angesichts steigender Zahlen von Infizierten und Toten genötigt, Maßnahmen zu verschärfen, doch der Empfehlung seines Wissenschaftsrats, eine allgemeine zweiwöchige Ausgangssperre zu verhängen, wollte er nicht Folge leisten. Zuletzt sprach auch Österreichs Außenamt eine Reisewarnung für die Türkei aus.

Es ist nicht das erste Mal, dass eine zeitlich verfehlte Aktion der Regierung zu einem Rücktritt führt. Am 26. März wurde eine Ausschreibung für ein gigantisches Kanalprojekt einer zweiten Verbindung zwischen Schwarzem Meer und Marmarameer auf den Weg gebracht. Als Reaktion gab es Empörung, wie man gerade jetzt für ein solch umstrittenes Projekt enorme Summen ausgeben könne, statt in den Gesundheitssektor zu investieren. Der Transportminister musste gehen, obwohl jeder wusste, dass die Ausschreibung nicht ohne Zustimmung Erdoğans veranlasst worden sein konnte.

Obwohl Erdoğan sich bislang immer gegen eine längere und aus Sicht der Experten einzig wirksamen Ausgangssperre gewehrt hat, kündigte ein Präsidentensprecher am Montag an, es könnte eine erneute Ausgangssperre kommen. Der Druck auf die Regierung Erdoğan wächst. (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, 13.4.2020)