"Ich kann mich selber dabei beobachten, wie andere mich beobachten – ohne allerdings zu wissen, ob sie mich beobachten. Das ist eine neue Situation", sagt Dirk Baecker über Videotelefonie.

Baecker

STANDARD: Die Corona-Krise zwingt uns soziale Distanz auch im engsten Familienkreis auf, aber können wir wirklich von "sozialer" Distanz sprechen? Ist es nicht vielmehr eine "physische Distanz", weil soziale Nähe aktuell durch Videotelefonie et cetera aufrechterhalten beziehungsweise geradezu gesucht wird?

Baecker: Es handelt sich meines Erachtens um eine physische Distanz, in der uns die Gesellschaft mit ihren Regeln so nah kommt wie selten zuvor. Unser Körper wird zum Feld der Auseinandersetzung zwischen der Gesellschaft und dem Virus. Wir können niemandem mehr begegnen, ohne an eine Ansteckungsgefahr zu glauben, die unsichtbar bleibt, zu der uns die Massenmedien jedoch täglich höchst anschauliche Bilder liefern. Wir weichen auf die Onlinemedien aus und sehen uns dort zum ersten Mal selber als Teilnehmer der Kommunikation.

STANDARD: Was macht diese Selbstwahrnehmung mit uns?

Baecker: Normalerweise blendet unser Gesichtsfeld uns selber ja aus. Ich sehe alles außer mich selber. Ich glaube immer nur, dass ich es bin, der zu sehen bekommt, was er zu sehen bekommt. Auf den geteilten Bildschirmen der Videokonferenzen bin ich jedoch Teilnehmer wie alle anderen auch. Ich kann mich selber dabei beobachten, wie andere mich beobachten – ohne allerdings zu wissen, ob sie mich beobachten. Das ist eine neue Situation, von der ich fürchte, dass sie uns noch ein wenig mehr entsubjektiviert, als es die Gesellschaft so oder so bereits vermag.

STANDARD: Was genau meinen Sie mit Entsubjektivierung?

Baecker: Wir denken selten darüber nach, aber in unserer Wahrnehmungswelt, voll wie sie ist, tauchen wir selber als Lücke auf. Das Auge ist nicht Teil des Gesichtsfelds, sagte Ludwig Wittgenstein. Paradoxerweise hilft uns dies dabei, Subjekte zu sein: das Ich, das alle unseren Vorstellungen begleitet, wie Kant formulierte. Was passiert, wenn ich mich nun unter allen anderen Teilnehmern an einer Videokonferenz auf dem Bildschirm sehe? Ich sehe mich, und ich weiß, dass ich es bin, der sich sieht. Aber das Ich wird gespalten, wenn ich so sagen darf. Es rückt sich ferner und kommt sich unangenehm näher. Die Phänomenologen müssen uns noch sagen, was das aus dem Subjekt macht.

STANDARD: Kommen wir zur Familie: Stärkt die Krise auf paradoxe Weise familiäre Bindungen?

Baecker: Ja, die Familie rückt zusammen und sorgt sich, soweit es nicht die Älteren sind, die geschützt werden müssen. Die Frage ist nur, wie lange man die Nähe aushält. Nähe, die man aushalten kann, lebt davon, dass man sich auch aus dem Weg gehen kann. Wie gehen wir mit Nähe um, wenn das Ausweichen nicht möglich ist. Psychologen empfehlen, in diesen Tagen kommentarlos hinzunehmen, wenn jemand mal eine Tür hinter sich zuzieht. Aber nicht jeder hat ein Zimmer, in das er oder sie sich zurückziehen kann. Der alte Traum, zusammen sein zu können, offenbart seine Kehrseite.

STANDARD: Was passiert mit einer Gesellschaft, in der aber die Nähe zu Alten und Kranken selbst im Familienkreis gemieden werden muss?

Baecker: Schwer zu sagen. Man weicht auf Medien der Information und Kommunikation aus. Man hält sich auf dem Laufenden, tauscht ernste Fragen und aufmunternde Belanglosigkeiten aus. Die Gesellschaft, soweit sie nicht Gesundheitssystem, Politik und Massenmedien betreibt, wird in einen Wartezustand versetzt. Kein Thema ist wichtiger als die Frage, wann die Restriktionen wieder aufgehoben werden. Unsere Gesellschaft lebt nicht nur davon, dass man Arbeit hat und Geld verdienen kann, sondern davon, dass man zwischen Arbeit und Freizeit, Politik und Religion, Kultur und Wissenschaft, Massenmedien und Alltag wechseln kann. Wenn dieser Wechsel fortfällt, wird es eng – im wahrsten Sinne des Wortes.

STANDARD: Ist in dieser Krise die Kleinfamilie gegenüber der Großfamilie im Vorteil?

Baecker: Die Kleinfamilie ist im Vorteil und im Nachteil. Sie darf zusammenhalten, sie erlebt aber auch die Zumutung der Nähe. Das stärkt die Sehnsucht nach der Großfamilie, die ja den unschätzbaren Vorteil hat, dass man sich aus dem Weg gehen kann, ohne die Familie verlassen zu müssen.

STANDARD: Mit Blick auf Italien: Sind Gesellschaften, in denen traditionellere Familienstrukturen – also mehrere Generationen unter einem Dach – vorherrschen, gefährdeter?

Baecker: Epidemiologisch gesehen bestimmt. Aber sozial gesehen kann uns nichts Besseres passieren, als mehrere Generationen unter einem Dach leben zu lassen. Das sorgt für die Durchmischung von Erfahrung und Erleben, für die Varianz von Reaktionsmustern und Handlungsalternativen. Klar, die Kehrseite ist, dass man angesichts der großfamiliären Vielfalt glauben kann, damit sei die Gesellschaft bereits abgebildet. Die Neugier auf Verhältnisse außerhalb der Familie nimmt vermutlich ab.

STANDARD: Wie könnte sich diese Krise langfristig auf das familiäre Zusammenleben auswirken?

Baecker: Die Soziologie hat genug mit der Beobachtung der Gegenwart zu tun und eignet sich nicht für Prognosen. Aber man darf erwarten, dass die Leute mit einem neuen Wissen um die Ambivalenz ihrer Verhältnisse aus der Krise herauskommen werden. Im besten Fall stärkt das die Rücksichtnahme aufeinander und den Respekt voreinander.

STANDARD: Kann es sein, dass die Krise neue Resonanzverhältnisse, wie sie etwa der Soziologe Hartmut Rosa beschreibt, hervorruft? Lernen wir durch die künstlich hervorgerufene Unterbrechung von Beziehungen zu Personen und Dingen, diese wieder mehr zu schätzen?

Baecker: Ich denke, dass vor allem erfahrbar wird, wie anspruchsvoll, schwierig und ambivalent Resonanz ist. Ich kann ihr ja kaum noch ausweichen. Liebe und Hass sind beide Formen von Resonanz. Was ist das Gegenteil von Resonanz?

STANDARD: Nach Hartmut Rosa Erkaltung, Verstummen: Beziehungen, die keine Gefühle mehr wecken.

Baecker: Ja, genau, aber auch damit resoniere ich ja. Ich reagiere, stehe nach wie vor in einer Beziehung. In einer Beziehung, die das Gefühl in mir weckt, keine Gefühle mehr in mir zu wecken. Das Gegenteil von Resonanz ist ebenfalls Resonanz. Man müsste sich aus dem Weg gehen, um aus dieser Zwickmühle herauszukommen. Aber wir wissen, wie unmöglich das ist. Wir tragen sie mit uns herum, diese Leute, denen wir aus dem Weg gehen. (Stefan Weiss, 15.4.2020)