Schon unter Türkis-Blau wurde das schlampige Verhältnis des Bundeskanzlers zum Rechtsstaat sichtbar: "Leuchtturmprojekte" seiner Regierung wie die neue Sozialhilfe oder das Überwachungspaket wurden vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben. Auch in der türkis-grünen Koalition demonstriert Sebastian Kurz einen leichtfertigen Umgang mit Verfassung, Grundrechten und Rechtsstaat. Kritik an schlecht formulierten Erlässen und Gesetzen, die juristisch nicht einwandfrei und möglicherweise verfassungswidrig sein könnten, wischt er mit lockerer Geste zur Seite: Das seien doch nur juristische Spitzfindigkeiten. Man müsse hier Nachsicht walten lassen, in der Eile könnten schon ein paar Fehler passieren; nichts, was sich nicht mit Hausverstand handhaben ließe.

Bundeskanzler Sebastian Kurz mit Innenminister Karl Nehammer, Vizekanzler Werner Kogler und Gesundheitsminister Rudolf Anschober.
Foto: APA/ROLAND SCHLAGER

Nein, das geht so nicht, hier muss man dem Kanzler widersprechen. Man kann den Hausverstand (wessen?) nicht über die Verfassung stellen. Die Eile der gebotenen Maßnahmen rechtfertigt keinen juristischen Pfusch. Auch unter Zeitdruck kann sauber gearbeitet werden. Die Ausrede auf die tüchtigen, aber möglicherweise überforderten Juristen des Gesundheitsministeriums ist nicht zulässig. Wenn in einer so schwerwiegenden Causa gepfuscht wird, fällt das auf den Bundeskanzler zurück. Er trägt die Verantwortung und muss darauf achten, dass bei der Eindämmung des Virus keine überbordenden Maßnahmen gesetzt werden, die den Rechtsstaat außer Kraft setzen könnten.

Gerade in einer Krise wie dieser müssen sich die Menschen darauf verlassen können, dass sie sicher sind und ihre Rechte gewahrt werden. Es geht nicht um ein paar lapidare Vorschriften, es geht um schwerwiegende Eingriffe in Grundrechte, wie die Bewegungsfreiheit, das Recht auf Familienleben, das Versammlungsrecht. Hier müssen die besten Legisten ran, um die Maßnahmen sauber auszugestalten, unter größtmöglicher Wahrung der Grundrechte.

Die Leichtigkeit, mit der Kurz Einwände zur Seite schiebt, ist nicht akzeptabel: Bis das Höchstgericht all das geprüft haben wird, seien die Maßnahmen ohnedies nicht mehr in Kraft – also egal. Nein, das ist nicht egal. Das sind die Fundamente, auf denen unser Zusammenleben aufbaut. Auf diese Regeln müssen wir uns verlassen können, erst recht auch in Ausnahmesituationen wie dieser. Ein derart schlampiger Umgang mit dem Rechtsstaat wird niemandem in diesem Land gestattet. Er ist auch dem Kanzler nicht gestattet. Eben das macht unsere Demokratie aus. (Michael Völker, 15.4.2020)