Bild nicht mehr verfügbar.

Käufer sind rar, nicht nur in dieser Shoppingmall in Südkoreas Hauptstadt Seoul.
Foto: REUTERS/Heo Ran

Kein Lockdown, keine Schließung der Geschäfte, keine Grenzsperren, keine Ausgehverbote: Südkorea versucht seit Monaten einen eigenen Weg, das Coronavirus in den Griff zu bekommen. Bisher mit Erfolg. Sogar die Parlamentswahlen, die einen Sieg der Regierungspartei brachten, liefen problemlos ab.

Der an der Grazer Universität lehrende deutsche Soziologe Klaus Kraemer lud kürzlich zu einem internationalen Online-Forschungskolloquium zum Thema "Soziologe der Corona-Krise". Mit dabei in der akademischen Runde war auch der südkoreanische Soziologe Jin-Wook Shin, Professor am Department of Sociology der Chung-Ang University in Seoul. Der STANDARD befragte ihn anschließend in einer E-Mail-Konversation über den aktuellen Zustand Südkoreas – und wie sich das Land ohne großen Zwangsmaßnahmen durch die Corona-Krise manövriert.

STANDARD: Inwiefern unterscheiden sich die Strategien im Kampf gegen das Coronavirus in Österreich und Europa von jenen in Südkorea?

Shin: Die koreanische Regierung hat sehr früh angefangen, sich vorzubereiten, schon im Jänner, als nur vier Personen in Korea infiziert waren. Daran beteiligt waren die öffentlichen Institutionen wie die KCDC (Korean Centers for Disease Control and Prevention), das Ministry of Health and Welfare, aber auch die Unternehmen der Pharma- und medizinischen Industrie und die großen privaten Krankenhäuser. Die Regierung hat wirklich sehr schnell und offensiv reagiert – dabei aber keine extremen Maßnahmen wie Grenzkontrollen, Einreiseverbot, Blockade bestimmter Regionen oder Ausgehverbot gesetzt. Zwangsmaßnahmen wären undenkbar vor dem historischen Hintergrund der Diktatur bis vor drei Jahrzehnten.

Als sich in Daegu, einer der größten Städte in Südkorea, die Viren Ende Februar explosiv verbreiteten, hat die Regierung nicht einmal erwogen, die Stadt abzuriegeln. Es ist mein Eindruck, dass in vielen europäischen Ländern die Regierungen erst nach der Ausbreitung und dem großen Infektionsausbruch angefangen haben, auf die Situation richtig zu reagieren. Die Politik muss sich im Klaren sein, dass die politischen und gesellschaftlichen Kosten der Bekämpfung der schon ausgebreiteten Viren viel höher sind als die Kosten für die Prävention und Eindämmung der noch lokalisierten Viren. Je später, desto teurer: mehr Opfer, mehr extreme Maßnahmen, mehr Schaden für die Wirtschaft.

STANDARD: Wie hat Südkorea die Covid-19-Epidemie konkret eindämmen können, welche Maßnahmen wurden verordnet?

Shin: Das Wichtigste war, die potenziellen Infektionen – nämlich alle Personen, die mit Infizierten einen engen Kontakt hielten – herauszufinden, zu isolieren, zu testen und, wenn diese ebenfalls bereits infiziert waren, sofort und kostenlos medizinisch zu versorgen. Die Regierung hat diese Strategie als 3T-Prinzip ("trace, test, and treat") formuliert. Dadurch konnten die Regierung und die medizinischen Kräfte intervenieren, bevor die Patienten – auch wenn sie ohne Symptome waren – weitere Leute infizieren. Es wurden verschiedene Mittel erfunden für ein umfassendes und schnelles Testen: Schnelltestkits, Drive-through-Tests, Walk-through-Tests – und spezielle Testkabinen für den Schutz des medizinischen Personals. Außerdem wurde die Bevölkerung seit Jänner von den Medien mit enorm viel medizinischer Information für die Prävention versorgt. Dazu gehören natürlich auch so simple Dinge wie Hände mit Seife waschen, Maske tragen, nicht gemeinsam essen oder Social Distancing,

STANDARD: Wie effektiv waren bisher Social Distancing und die Verwendung einer Corona-App?

Shin: Social Distancing wird in Südkorea für sehr wichtig gehalten, nicht nur von der Regierung, sondern auch von den Bürgern. Es gibt hier wie erwähnt kein Ausgehverbot, keine Schließung von Geschäften, Lokalen und Kaufhäusern. Stattdessen empfiehlt die Regierung Social Distancing wiederholt und nachdrücklich. Das freiwillige Social Distancing ist deshalb eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die Gesellschaft ohne staatliche Zwangsmaßnahmen die Infektionswelle eindämmen kann. Die Bürger in Südkorea benutzen auch mehrere Corona-Apps. Die Programme, die freiwillig auf die Smartphones heruntergeladen werden, enthalten nützliche Informationen über die Trends, neue Infektionen in den Provinzen, Städten und Bezirken, wo man Masken kaufen kann oder welches Spitäler man aufsuchen kann, wenn man Symptome hat. Ob Informationen über die Bewegungsprofile für die Bürger nützlich sind, ist aber fraglich, ich denke, sie sind zu grob.

Es gibt in Korea eine Corona-App, die verpflichtend installiert werden muss – und zwar eine für jene Personen, die mit Infizierten Kontakt hatten und deswegen Corona-getestet wurden. Sie sind in Selbstquarantäne. Bis sie als nichtinfiziert gelten, müssen sie über diese App regelmäßig ihren gesundheitlichen Zustand berichten. Diese App hat auch die Funktion zu checken, ob sie zu Hause bleiben. Andere Bürger haben aber mit dieser App nichts zu tun.

STANDARD: Sie erwähnen, dass die Geschäfte und Lokale generell weiter offen sind. Wie sind hier die Erfahrungen?

Shin: Schulen sind geschlossen, aber die Geschäfte, Lokale, große Kaufhäuser, alles ist offen, also: gesetzlich nicht verboten. Aber sie haben viel, viel weniger Besucher als in normaler Zeit. Das heißt: Wenn sie geschlossen werden müssen, werden sie nicht auf Geheiß der Regierung geschlossen, sondern von den Verbrauchern, die wegen des Social Distancing die Geschäfte nicht mehr frequentieren. Alle Besucher müssen in den meisten geschlossenen öffentlichen Räumen zwei Meter Abstand halten; alle Beschäftigten tragen Masken, an jeder Ecke und in jeder Etage gibt es Desinfektionsmittel. Südkoreaner sind, anders als die Japaner, Maskentragen nicht gewohnt. Aber eine Maske zu tragen, das wurde jetzt zur Etikette. In Südkorea ist man außerdem das Internetshopping gewohnt, und das Lieferservice von Lebensmitteln per Internetbestellung ist gut entwickelt. Das ist auch ein wichtiger Grund dafür, warum in Südkorea keine Hamsterkäufe in Läden zu sehen waren und sind.

STANDARD: Wie hat sich die koreanische Wirtschaft bis jetzt entwickelt? Welche Auswirkungen hatte die Krise auf die Ökonomie des Landes?

Shin: Dank der relativ erfolgreichen Kontrolle der Corona-Krise ist die wirtschaftliche Lage in Südkorea nicht so kritisch wie in den USA und manchen europäischen Ländern. Aber im Vergleich zu normalen Bedingungen ist die Auswirkung der Corona-Krise ernsthaft genug. Die Wachstumsrate der Produktion des Landes lag im Februar im Verhältnis zum Vormonat bei minus 3,5 Prozent – der schlechteste Wert seit 2011 (damals wegen der Maul- und Klauenseuche). Besonders stark betroffen sind der Dienstleistungssektor und der Kleinhandel. Die Regierung und die Unternehmen bereiten sich gerade auf langfristige wirtschaftliche Schwierigkeiten vor, weil Südkorea die höchste Exportabhängigkeitsrate unter den OECD-Mitgliedsländern hat und die Weltwirtschaft für längere Zeit eine Rezession erfahren wird.

STANDARD: Wie sieht die Lage der Corona-Ausbreitung aktuell aus, fürchtet man in Südkorea eine zweite Infektionswelle?

Shin: Die Statistiken bezüglich Infektionen und Toten haben sich in den vergangenen Tagen eindeutig weiter verbessert. Neuinfektionen liegen nun bei weniger als 50 pro Tag. Die Zahl der geheilten Personen überstieg schon zwei Drittel der gesamten Zahl der Personen, die früher als infiziert festgestellt wurden. Aber immer mehr Bürger sind des Social Distancing schon müde, das bewirkt auch großen psychischen Stress. Bis vor ein paar Tagen konnte man nur wenige Leute und Autos auf der Straße sehen – jetzt aber haben wir mehr Menschen in den Parks, auf der Straße und in den Geschäften. Experten und Politiker warnen jeden Tag vor einer zweiten Welle. Die Regierung hat jetzt striktere Regeln verordnet, inklusive Schließung von Clubs und Salons mit engem Körperkontakt.

STANDARD: Zuletzt haben Berichte für große Beunruhigung gesorgt, dass bereits als immun geltende Personen in Südkorea wieder Symptome zeigten ...

Shin: Ja, so ist die Diagnose bis jetzt, obwohl die Mediziner nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen können, warum das so ist. Es gibt verschiedene Theorien dazu. Wenn es aber tatsächlich zutrifft, würde der schwedische Weg im Grunde infrage gestellt werden müssen. Auf jeden Fall wurde in Südkorea die Theorie der Herdenimmunität als verlässliche Grundlage für die Entscheidung und Maßnahmen im Kampf gegen Covid-19 verworfen, weil sie zu riskant ist und zu viele Opfer erfordern würde. Es ist undenkbar in Südkorea, dass ein Politiker öffentlich sagt, dass es unvermeidlich ist, dass weite Teile der Bevölkerung von den Viren infiziert werden.

STANDARD: Was ist denn die langfristige Strategie der südkoreanischen Politik? Ohne Herdenimmunität wird das Virus wohl viele Jahre in der Gesellschaft bleiben und diese auch nachhaltig verändern. Viele Verhaltensregeln, etwa das Tragen von Masken, werden wohl jahrelang notwendig sein, oder?

Shin: In der Frühphase der Krise haben die Regierung und die Gesellschaft in Südkorea auf eine baldige Normalisierung der Situation gehofft. Aber langsam entsteht ein breiter Konsens darüber, dass diese Krise lange andauern wird und sich die zunächst von Viren ausgelöste Gesundheitskrise global auf alle sozialen Bereiche ausweiten kann. Die endgültige Lösung der Virenkrise wäre die Entwicklung eines Impfstoffs und Therapeutikums. Die südkoreanische Medizinindustrie und Wissenschafter bemühen sich jetzt in internationaler Zusammenarbeit darum. Für die Entwicklung von Impfstoff und Therapeutika brauchen wir aber lange Zeit, und die Gesellschaft muss die Zeit überstehen. Die Regierung und die Gesundheitsbehörden haben angekündigt, dass die gesamte Gesellschaft in naher Zukunft von der Strategie des Social Distancing zu "alltäglichen Vorbeugungsmaßregeln" übergehen muss. Es ist damit nicht die Lockerung des Social Distancing gemeint, sondern dessen Verfeinerung in die Richtung, dass es langfristig und alltäglich realisierbar wird und, zumindest für einen gewissen Zeitraum, zu neuen Normen und Gewohnheiten führt.

Ein Beispiel war die Parlamentswahl, die am 15. April stattfand. Es gab natürlich ein Infektionsrisiko, aber wir konnten nicht lange Zeit ohne Wahl und ohne Gesetzgeber auf das Ende der Virenkrise warten. So wurden verschiedene Ideen entwickelt für die Minimierung des Infektionsrisikos beim Wahllokal: mehr als ein Meter Distanz, Maske tragen, Desinfektionsmittel, Temperatur messen und die Verteilung von Plastikhandschuhen. Das Ergebnis war erstaunlicherweise die höchste Beteiligung an Parlamentswahlen seit 1992. Ein anderes Beispiel ist die landesweite Einführung von Onlineklassen ab Mitte April für rund vier Millionen Schüler in Grundschule, Middle School und High School. Die Echtzeit-Onlineklasse wird via Videokonferenz durchgeführt, das Lehrmaterial wird in Form elektronischer Texte und E-Books angeboten. Für die Schüler, die keine Geräte dafür haben, verteilt die Regierung Tablets. Wie solche Beispiele zeigen, ist der Fokus der Diskussionen in der Öffentlichkeit und der Regierung zurzeit in Südkorea die Suche nach Reformen, die es erlauben, dass die gesellschaftlichen Systeme und das Alltagsleben sich an eine langfristige Infektionskrise anpassen. Und wir können diese Corona-Krise auch für Innovationen nutzen. (Walter Müller, 16.4.2020)

Die Gesellschaften müssten sich an eine langfristige Infektionskrise anpassen, sagt der südkoreanische Soziologe Jin-Wook Shin.
Foto: Shin