Was liest Du? David Lewis. Also den mit den möglichen Welten? Genau, sagt sie, und verdreht ein bisschen die Augen. Denn Lewis ist einer der wichtigsten Sprachphilosophen überhaupt. Die Partnerin wird einmal Doktorin der Philosophie, das sollte man hier vielleicht erwähnen.

Philosophen erklären so einiges mit diesen eigenartigen Hilfswelten, die es gar nicht gibt. Kausalität zum Beispiel. Warum bin ich, wenn ich den Lichtschalter drücke, die Ursache dafür, dass das Licht angeht? Weil es eine mögliche Welt gibt, in der ich den Schalter nicht betätige. Dort geht auch das Licht nicht an. Oder so ähnlich.

Mögliche Welten. Das sind Abende, an denen ich nach Feierabend mit Freunden einen Rotwein trinke anstelle eines Weißweins. Das sind Welten, in denen ich einen Film fertigschaue, obwohl meine Augenlider schwer wie Kartoffelsäcke sind. Mögliche Welten sind die vielen kleinen Freiheiten, die die Routine des meist reichlich verplanten Alltags bereithält.

Dieser Alltag ist dahin. Es ist völlig egal, ob heute nun Freitag der 27. März oder Donnerstag der 16. April ist. Die Tage unterscheiden sich durch nichts als ihren Abstand zu Anfang und Ende des Zeitintervalls, in dem der Staat wegen des nervigen Coronavirus im Wachkoma liegt. Keine Abende im Gastgarten, keine Geburtstagsfeste, einsames Ostern. Wie viele mögliche Welten wurden uns weggenommen!

Eine Reise durch die Anden?

Aber trügt der Schein vielleicht? So sehr die kleinen, lieb gewonnenen Freiheiten im Alltag beschnitten wurden, so sehr ertappe ich mich immer wieder dabei, wie ich große Pläne schmiede. Nicht alle sind realistisch. Ein großes Haus mit Sauna und Garten im estnischen Tartu? Die Partnerin ist Estin, das sollte man hier vielleicht erwähnen. Eine Reise durch die Anden? Wieder mehr musizieren? Wer weiß, ob diese Gedanken in mir auch gesprossen wären, wenn die Pandemie die altbewährte Alltagsroutine nicht von heute auf morgen abgedreht hätte.

Es ist die wirkliche Welt, in der die Maßnahmen gegen das Virus wieder zurückgenommen werden und das gesellschaftliche wie individuelle Leben sich wieder entfalten kann. Ob ich nahtlos so weiter machen werde wie vorher? Wer weiß. Denn die Zeit nach Corona scheint reich an Möglichkeiten, die ich vorher nie angedacht hätte. (Aloysius Widmann, 17.04.2020)